Kastner, Erich
Penig nicht nach Döbeln gezogen wäre, sondern beispielsweise nach Leipzig oder Chemnitz, oder wenn das Stubenmädchen Ida nicht ihn genommen hätte, sondern, zum Beispiel, einen Klempnermeister Schanze oder einen Buchhalter Pietsch, wäre ich nie auf die Welt gekommen! Dann hätte es nie einen gewissen Erich Kästner gegeben, der jetzt vor seinem Schreibblock sitzt und euch von seiner Kindheit erzählen will! Niemals!
Das täte mir, bei Lichte betrachtet, sehr leid. Andrerseits: Wenn es mich nicht gäbe, könnte es mir eigentlich gar nicht leidtun, daß ich nicht auf der Welt wäre! Nun gibt es mich aber, und ich bin im Grunde ganz froh darüber. Man hat viel Freude davon, daß man lebt. Freilich auch viel Ärger. Aber wenn man nicht lebte, was hätte man dann?
Keine Freude. Nicht einmal Ärger. Sondern gar nichts!
Überhaupt nichts! Also, dann hab ich schon lieber Ärger.
Das junge Ehepaar eröffnete in der Ritterstraße in Döbeln eine Sattlerei. Ida Kästner, geborene Augustin, ging, wenn es klingelte, in den Laden und verkaufte Portemonnaies, Brieftaschen, Schulranzen, Aktenmappen und Hundeleinen. Emil Kästner saß in der Werkstatt und arbeitete. Am liebsten verfertigte er Sättel, Zaumzeug, Kumte, Satteltaschen, Reitstiefel, Peitschen und überhaupt alles, was aus Leder für Reit-, Kutsch-und Zugpferde gebraucht wurde.
Er war ein vorzüglicher Handwerker. Er war in seinem Fach ein Künstler! Und die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts waren zudem für einen jungen Sattlermeister außerordentlich günstig. Es herrschte wachsender Wohlstand, und viele reiche Leute hielten sich Pferd und Equipage oder Reitpferde. Die Brauereien, die Fabriken, die Baufirmen, die Möbeltransporteure, die Bauern, die Großkaufleute und die Rittergutsbesitzer, sie alle brauchten Pferde, und alle Pferde brauchten Lederzeug.
Und in den kleinen Städten ringsum lagen Kavallerieregimenter in Garnison, in Borna, in Grimma, in Oschatz. Husaren, Ulanen, berittene Artillerie, reitende Jäger! Alle hoch zu Roß, und die Leutnants, die Eskadron-und Schwadronchefs auf Eigentumspferden mit besonders elegantem Sattelzeug! Und überall gab es Pferderennen, Reitturniere und Pferdeausstellungen! Heute gibt es Lastautos, Sportwagen, Panzer, damals gab es Pferde, Pferde, Pferde!
Mein zukünftiger Vater war zwar ein erstklassiger Handwerker, ja ein Lederkünstler, aber ein schlechter Geschäftsmann. Und eines hing mit dem ändern eng zusammen. Der Schulranzen, den er mir 1906 machte, war, als ich 1913 konfirmiert wurde, noch genau so neu wie an meinem ersten Schultage. Er wurde dann an irgendein Kind in der Verwandtschaft verschenkt und immer wieder weitervererbt, sobald das jeweilige Kind aus der Schule kam. Ich weiß nicht, wo mein guter alter brauner Ranzen heute steckt. Doch ich würde mich nicht wundern, wenn er nach wie vor auf dem Rücken eines kleinen Kästners oder Augustins zur Schule ginge! Doch das gehört noch nicht hierher. Wir befinden uns ja erst im Jahre 1892. (Und müssen noch sieben Jahre warten, bis ich auf die Welt komme!)
Jedenfalls, wer Schulranzen macht, die nie kaputtgehen, verdient zwar höchstes Lob, aber es ist für ihn und seine Zunft ein schlechtes Geschäft. Wenn ein Kind drei Ranzen braucht, so ist der Umsatz wesentlich höher, als wenn drei Kinder einen Ranzen brauchen. In dem einen Falle würden drei Kinder neun Ranzen brauchen, im ändern Fall einen einzigen. Das ist ein kleiner Unterschied.
Der Sattlermeister Kästner stellte also unverwüstliche Ranzen her, unzerreißbare Mappen und ewige Herren-und Damensättel. Natürlich waren seine Erzeugnisse etwas teurer als anderswo. Denn er verwendete das beste Leder, den besten Filz, den besten Faden und sein bestes Können.
Den Kunden gefielen seine Arbeiten weit besser als seine Preise, und mancher ging wieder aus dem Laden hinaus, ohne gekauft zu haben.
Es soll sogar einmal vorgekommen sein, daß ein Husarenrittmeister einen besonders schönen Sattel trotz des hohen Preises kaufen wollte. Aber plötzlich gab mein Vater den Sattel nicht her! Er gefiel ihm selber zu gut!
Dabei konnte er nicht reiten und hatte kein Pferd, - ihm war nur eben zumute wie einem Maler, der sein bestes Bild verkaufen soll und lieber hungert, als es fremden Menschen für Geld auszuliefern! Handwerker und Künstler scheinen miteinander verwandt zu sein.
Die Geschichte mit dem Rittmeister hat mir meine Mutter erzählt. Und mein Vater, den ich im vorigen Sommer danach fragte,
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