Ein Stiefel voll Glück - Oskar und Mathilda ; 1
»Überleg dir gut, was du mitnehmen willst«, sagte Henriette Habermick am Morgen des Umzugstags zu Oskar. »Unsere neue Wohnung ist sehr klein. Wir haben nur ein Zimmer, eine Wohnküche und ein winziges Bad.«
Oskar runzelte die Stirn. »Keine Badewanne?«, fragte er.
»Nein, keine Badewanne«, sagte seine Mutter. »Nicht einmal eine Dusche.«
»Oh«, sagte Oskar.
»Nur ein Waschbecken, aber das reicht ja auch«, fügte Henriette Habermick hinzu. »Notfalls können wir im Garten duschen.«
Oskar nickte. Während er darüber nachdachte, wie schmutziger wohl werden musste, damit ein Notfall eintrat, ließ er den Blick über seine Habseligkeiten gleiten. Sein altes Zimmer war auch nicht besonders groß, dafür jedoch hell und gemütlich. Vor allem aber hatte es ihm allein gehört. Das neue Zimmer würde er sich mit seiner Mutter teilen müssen.
»Und wenn Papa morgen wiederkommt?«, fragte er vorsichtig.
»Tut er nicht«, sagte Henriette Habermick.
Oskar versuchte, seiner Mutter in die Augen zu sehen, doch sie strich sich ein wenig fahrig das dünne blonde Haar hinters Ohr und wich seinem Blick aus.
»Woher weißt du das?«, fragte er.
»So etwas hat man im Gefühl«, sagte Henriette Habermick.
Sie hielt einen Moment inne, dann atmete sie tief durch und legte ihre weichen, warmen Hände auf seine Schultern. »Hör zu, ich weiß, dass das alles nicht leicht für dich ist. Ich begreife es ja selber kaum. Aber Papa wollte schon immer in der Welt herumreisen. Vielleicht ist es ihm hier einfach zu eng geworden.«
Oskars Vater war von einem Tag auf den anderen verschwunden. Wie gewohnt war er früh am Morgen mit seiner Aktentasche in der Hand aus der Tür gegangen und abends einfach nicht mehr zurückgekommen. Das war nun drei Monate her. In der Zwischenzeit hatte Henriette Habermick alles versucht, um ihren Mann zu finden. Vergebens!
Und nun war sie todunglücklich und Oskar war es auch. Immer wenn sie durch irgendetwas an Manfred Habermick erinnert wurden, und das war ziemlich oft der Fall, mussten sie weinen. Und deswegen hatte Henriette Habermick beschlossen, dass es besser war, in eine andere Gegend zu ziehen.
»Er hätte es uns sagen können«, meinte Oskar. »Oder aufschreiben.«
Seine Mutter seufzte leise. »Manchmal passieren die Dinge sehr plötzlich«, erwiderte sie. »Möglicherweise ist er auf seinem Weg vom Büro nach Hause an einem Reisebüro vorbeigekommen und …«
»Ist er nicht«, fiel Oskar ihr ins Wort. Er kannte den Weg in- und auswendig, den sein Vater damals zweimal täglich fünf Tage die Woche zurücklegen musste. Es gab dort einen Supermarkt, einen Metzger, eine Bankfiliale, ein griechisches Restaurant und ein Modegeschäft, aber kein Reisebüro. Damals nicht und jetzt auch nicht.
»Dann hat er vielleicht ein Plakat gesehen, auf dem ein Meer, eine Wüste oder San Francisco abgebildet war«, sagte Henriette Habermick.
»Und warum hat er uns keine Postkarte geschrieben?«, erwiderte Oskar. »Er muss doch wissen, dass wir uns Sorgen machen.«
Seine Mutter seufzte abermals. »Ich könnte mir vorstellen, dass er ein sehr schlechtes Gewissen hat«, sagte sie.
»Und wenn ihm etwas zugestoßen ist?«
Henriette Habermick schüttelte den Kopf. »Nein, davon hätten wir auf jeden Fall erfahren.«
Oskar presste die Lippen aufeinander. Das tat er immer, wenn er merkte, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er wollte aber nicht schon wieder heulen. Erfahrungsgemäß führte das zu nichts, außer dass seine Mutter ebenfalls zu weinen begann. »Okay«, sagte er knapp. »Ich nehme das Backbuch mit, die Mokkabohnen und den Bären. Das passt alles noch zu den Schulsachen in meinen Rucksack.«
Außerdem war Oskars Lieblingszahl die Drei.
Henriette Habermick zog erstaunt die Brauen hoch. »Die Mokkabohnen?«
»Ich brauche sie«, sagte Oskar.
»Aber wieso lässt du den Bären nicht hier?«, fragte seine Mutter. »Er ist doch ohnehin schon vollkommen zerlöchert.«
»Eben«, sagte Oskar. Lieber fiel er auf der Stelle tot um, als ausgerechnet den zerlöcherten Bären allein in der leeren Wohnung zurückzulassen.
»Und was ist mit den Legos, deiner Rennbahn und den ganzen Büchern, die Papa dir geschenkt hat?«
»Nichts«, sagte Oskar. »Meinetwegen kannst du sie verkaufen.« Das hatte seine Mutter mit ihren eigenen Büchern, den meisten Anziehsachen, den Möbeln und allem möglichen anderen Kram schließlich auch schon getan.
»Also gut«, sagte Henriette Habermick und deutete auf das
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