Al Wheeler und die geborene Verliererin
1
Die Haustür öffnete sich so
schnell, daß ich kaum Gelegenheit hatte, den Daumen vom Klingelknopf zu nehmen.
Auf den ersten Blick wirkte die Frau, die vor mir stand, wie eine stumpf
gewordene Streitaxt, wie eine Hinterlassenschaft aus irgendeinem europäischen
Krieg des fünfzehnten Jahrhunderts, so als ob Zeit und bittere Erfahrungen sie
bis zum Stadium endgültiger Kapitulation zermürbt hätten.
Ich schätzte sie auf Mitte
Fünfzig. Ihre Haut hatte die Bräune und Struktur alten Leders, und ihr Gesicht
war so von tiefen Furchen durchzogen, daß es wie eine Landkarte aussah, auf der
die Stelle eingezeichnet ist, an der der Piratenschatz vergraben liegt. Die
tiefliegenden blauen Augen über der langen spitzen Nase wirkten sehr lebendig,
und das schulterlange Haar war mit grauen Strähnen durchsetzt. Der Pullover und
die eng anliegende Hose betonten eine Figur, die immer noch gut aussah — nicht
so sehr sexy, aber schlank und recht annehmbar.
»Mrs. Siddell?« sagte ich. »Ich
bin Lieutenant Wheeler vom Büro des Sheriffs.«
»Ich bekam gleich nach Anbruch
der Morgendämmerung diesen Anruf«, sagte sie mit trocken und brüchig klingender
Stimme. »Anonym natürlich. Die Stimme sagte, wenn ich hinaus zum Swimming-pool
ginge, so würde ich dort etwas finden, das von persönlichem Interesse für mich
sei.«
»Und war es so?« fragte ich,
weil mir das naheliegend schien.
»Wollen Sie nicht mitkommen und
selbst nachsehen?«
Ich folgte ihr durch das Innere
des Hauses hinaus auf die mit Fliesen belegte Terrasse, dann hinüber zum
Swimmingpool. Das frühe Sonnenlicht verlieh der Szenerie einen Anstrich
brutaler Realität, und das aseptisch reine Wasser hatte etwas merkwürdig wenig
Einladendes an sich. Nahe an seinem Rand lag zusammengekrümmt der Körper eines
Mädchens, nackt und schutzlos. Ich kniete neben ihm nieder und schob sachte das
lange, schwarze Haar zurück, welches das Gesicht bedeckte. Das Sonnenlicht
spiegelte sich in den dünnen Messingdrahtschlingen, die sich tief in die Haut
ihres Halses vergraben hatten. Die Augen waren weit aufgerissen, schienen mich
in schweigendem Entsetzen anzustarren, die angeschwollene Zunge quoll aus dem
Mund. Ich strich das lange schwarze Haar ins Gesicht zurück, so daß es wieder
unsichtbar wurde, und stand dann auf.
»Ob ich sie kenne?« sagte Mrs.
Siddell mit der gleichen trockenen, brüchigen Stimme wie zuvor. »Ja, ich kenne
sie. Ob ich weiß, weshalb jemand sie ermordet haben kann? Nein, ich weiß es
nicht. Ich habe sie seit achtzehn Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen. Warum
hat sie der Mörder wohl neben meinen Swimming-pool gelegt? Entweder um mich zu
warnen oder mir weh zu tun oder wahrscheinlich aus allen beiden Gründen.« Sie
schwieg eine ganze Weile. »Sind damit alle Ihre Fragen beantwortet,
Lieutenant?«
»Wer ist sie?«
»Carol, meine Tochter.« Sie
machte eine kleine Handbewegung. »Wollen wir nicht ins Haus zurückgehen?«
Das Wohnzimmer sah aus, als
hätte jemand dem Innendekorateur völlig freie Hand gelassen und als habe dieser
alle beide Hände mit Feuereifer walten lassen. Die inbrünstige Sorgfalt, die
auf die Details verwendet worden war, erweckte im Besucher eine gewisse
Nervosität, sobald er in Betracht zog, sich auf einen Stuhl zu setzen — er
mußte befürchten, dadurch das gesamte Dekor zu ruinieren. Mrs. Siddell strebte
geradewegs auf die Bar zu und goß sich einen Drink ein.
»Das tue ich nicht oft«, sagte
sie. »Jedenfalls nicht vor dem Frühstück, aber heute morgen habe ich weiß der
Himmel guten Grund dazu.«
»Darf ich mal telefonieren?«
fragte ich.
Ich rief im Büro an und wies
den Beamten vom Dienst an, den County Coroner und die Jungens vom Labor zu
benachrichtigen. Es dauerte nicht lange, aber Mrs. Siddell war bereits bei
ihrem zweiten Drink, als ich an die Bar trat.
»Ich bin Elizabeth Siddell«,
sagte sie. »Sagt Ihnen der Name etwas, Lieutenant?«
»Nein«, antwortete ich
aufrichtig.
»Ich möchte Sie nicht mit den
herzzerreißenden Details meiner Kindheit langweilen«, sagte sie. »Aber ich bin
mit fünfzehn von zu Hause weggerannt — ich lebte in Denver — und kam nach Los
Angeles. Ich strengte mich in meinem Beruf sehr an, und als ich dreiundzwanzig
war, hatte ich bereits eine leitende Stellung inne.« Sie ließ sich Zeit, einen
ansehnlichen Schluck zu trinken. »Ich war Madame in einem exklusiven Bordell.«
»Ich wollte Sie eigentlich nach
Ihrer Tochter fragen«, sagte ich.
»Sie müssen erst
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