Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kastner, Erich

Kastner, Erich

Titel: Kastner, Erich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Als ich ein kleiner Junge war
Vom Netzwerk:
Und wenn sie sechzehn Stunden hätte daheim schuften müssen statt acht Stunden in der Fabrik, ihr war es recht gewesen! Und es war ihr recht.
    Sie begann, für eine Firma im Stücklohn Leibbinden zu nähen. Derbe, breite, korsettähnliche Leinenbinden für dicke Frauen. Sie schleppte schwere, unförmige Pakete mit vorfabrizierten Teilen dieser Binden nach Hause. Bis spät in die Nacht hockte sie an der Nähmaschine mit Fußantrieb. Manchmal sprang der Treibriemen aus den Rädern. Oft zerbrachen die Nadeln. Es war eine Schinderei für ein paar Pfennige. Aber hundert Leibbinden brachten eben doch ein paar Mark ein. Das half ein wenig.
    Es war besser als nichts.
    Im Spätherbst des Jahres 1898 unterbrach Ida Kästner diese Heimarbeit und nähte stattdessen Babywäsche.
    Immer schon hatte sie sich ein Kind gewünscht. Nie hatte sie daran gezweifelt, daß es ein kleiner Junge sein werde.
    Und da sie es ihr Leben lang liebte, recht zu behalten, sollte sie auch diesmal recht haben.
    Am 23. Februar 1899, morgens gegen vier Uhr, nach fast siebenjähriger Ehe, brachte sie, in der Königsbrücker Straße 66, einen kleinen Jungen zur Welt, der den Kopf voller goldblonder Locken hatte. Und Frau Schröder, die resolute Hebamme, meinte anerkennend: »Das ist aber ein hübsches Kind!«
    Nun ja, die blonden Locken hielten nicht sehr lange vor.
    Aber ich besitze noch heute eine angegilbte Fotografie aus meinen ersten Lebenstagen, die den künftigen Verfasser bekannter und beliebter Bücher im kurzen Hemd auf einem Eisbärenfell zeigt, und auf dem Kinderkopf ringeln sich tatsächlich seidenfeine, hellblonde Locken. Da nun Fotografien nicht lügen können, dürfte der Beweis einwandfrei erbracht sein. Andrerseits, - ist euch schon aufgefallen, daß alle Leute, samt und sonders und ohne jede Ausnahme, auf ihren Fotos viel zu große Ohren haben? Viel, viel größere Ohren als in Wirklichkeit? So groß, daß man glauben möchte, sie könnten sich nachts damit zudecken? Sollten Fotografien also doch gelegentlich schwindeln?
    Jedenfalls, ob nun blond oder braun, wurde ich bald darauf in der schönen alten Dreikönigskirche an der Hauptstraße protestantisch getauft und erhielt feierlich die Vornamen EMIL ERICH. In der gleichen Kirche wurde ich, vom gleichen Pfarrer Winter, am Palmsonntag des Jahres 1913 konfirmiert. Und noch einige Jahre später betätigte ich mich hier an den Sonntagvormittagen als Helfer beim Kindergottesdienst. Doch das gehört nicht hierher.
    Das fünfte Kapitel
    Die Königsbrücker Straße und ich
    Die Königsbrücker Straße begann, als Verlängerung der Achse Prager Straße, Schloßstraße, Augustusbrücke, Hauptstraße und Albertplatz, freundlich und harmlos. Mit
    ›Hollacks Festsälen‹, einer alten Gastwirtschaft nebst Vorgarten, auf der einen und mit der von Nold’schen Privatschule ›für höhere Töchter‹ auf der ändern Seite.
    Damals gab es noch ›höhere‹ Töchter! So nannte man Mädchen, deren Väter adlig waren oder eine Menge Geld verdienten. Höhere Töchter hießen sie vielleicht, weil sie die Nase höher trugen als die anderen. Es gab aber auch
    ›höhere Schulen‹, und noch höher als die höheren waren die Hochschulen.
    Und auch sonst war man nicht gerade bescheiden. An vornehmen Haustüren stand ›Eingang nur für Herrschaften‹ und an den Hintertüren ›Für Lieferanten und Dienstboten‹. Die Herrschaften hatten ihre eignen Treppen mit weichen Teppichläufern. Die Dienstboten und Lieferanten mußten die Hintertreppe benutzen. Sonst wurden sie vom Hausmeister ausgeschimpft und zurückgeschickt. An den hochherrschaftlichen Türen erklärten hochherrschaftliche Porzellanschilder streng und energisch: ›Betteln und Hausieren verboten!‹ Wieder andre Schilder benahmen sich höflicher und bemerkten:
    ›Es wird gebeten, die Füße abzustreichen‹. Habt ihr es einmal versucht? Ich weiß bis heute noch nicht, was man tun muß, um sich ›die Füße abzustreichen‹. Ich wüßte zur Not, was man anstellen müßte, um sie sich anzustreichen!
    Andrerseits, so hochherrschaftlich kann keine Villa sein, daß ich mir an der höchstherrschaftlichen Haustür die Füße lackierte!
    In solchen Fällen pflegt mein Vater zu sagen: »Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht!« Nun ja, fast alle diese Schilder sind mittlerweile verschwunden. Sie sind ausgestorben.
    Auch die Göttinnen und Nymphen aus Bronze und Marmor, die nackt und ratlos am Treppenaufgang herumstanden, wie bestellt und nicht abgeholt.

Weitere Kostenlose Bücher