Antarktis 2020
Erster Teil
TITANGORA
I
Thomas Monig hatte Herzklopfen.
Auch das freundliche Lächeln der Sekretärin änderte nichts daran.
Er sah tatsächlich der nächsten Viertelstunde mit Bangen entgegen, obwohl dazu keinerlei Veranlassung bestand. Seine Zeugnisse und Beurteilungen waren gut, also konnte nichts schiefgehen.
Die Sekretärin würde schon in wenigen Tagen seine Arbeitskollegin sein und das repräsentative Hochhaus, in dessen 17. Etage er sich jetzt befand, seine künftige Wirkungsstätte.
Dennoch hatte er heiße, schwitzige Hände, und zum wiederholten Male wischte er sich die Rechte an seinem Hosenbein ab. Es schien ihm gewiß, daß Henry Mattau, der Staatssekretär, ihm die Hand drücken würde, vielleicht weil er einer alten Unsitte huldigte, vielleicht auch als Beweis eines gewissen Vertrauens.
Thomas hatte sich in verschiedenen Stockwerken des Gebäudes umgeschaut und immer wieder bestätigt gefunden, daß er die richtige Wahl getroffen hatte. Seine Mühe, während des Studiums darauf zu achten, angesehen zu sein, sich mit niemandem anzulegen, hatte sich offenbar durchaus gelohnt. Auch die Referenzen und Beurteilungen, die er nicht kannte, mußten ausgezeichnet sein, und das war schließlich die Vorbedingung für diesen Start.
Monig verwünschte im stillen seine Befangenheit, von der er meinte, daß sie ihm anzusehen sei.
Endlich ein Summton auf dem Schreibtisch. »Bitte, Sie können hineingehen«, sagte die Sekretärin.
Thomas stand auf, wischte mit der Rechten noch einmal über die Hose, überlegte kurz, ob er klopfen müsse, fand aber nichts, was an der gepolsterten Tür ein solches Bemühen hörbar gemacht hätte. So trat er betont forsch ein.
Ein mittelgroßes Zimmer, ein Tisch, daneben die Tastatur eines Videophons beachtlicher Größe, ein zusätzlicher Bildschirm, freundlichhelle Gardinen, viel Grün – und eine gewisse, sich Monig augenblicklich mitteilende Unnahbarkeit, die von dem Mann hinter dem Schreibtisch ausging. Er war groß, schlank, hatte volles, fast weißes Haar. Die Haltung, vor allem aber sein Gesichtsausdruck, als er kurz aufstand, waren unpersönlich.
»Kollege Monig?« fragte er. Und ohne eine Antwort abzuwarten, wies er auf einen Sessel: »Bitte, nimm Platz.«
Thomas setzte sich und kam irgendwie aus dem Konzept, als er feststellen mußte, daß Henry Mattau keine Anstalten machte, hinter seinem Schreibtisch hervorzukommen. Er hatte sich wieder gesetzt und lehnte sich in seinem bequemen Drehstuhl zurück. Er schien auch keine Erklärungen zu erwarten, denn er begann sofort in einem, wie es Monig schien, frostigen Ton: »Du hast, Kollege Monig, unserem Schreiben entnommen, daß wir dich für fähig halten, in unserem Kombinat mitzuarbeiten. Wir erachten es aber für notwendig – und eine Aussprache mit deinem Mentor hat uns darin bestärkt –, daß du ein Intensivpraktikum absolvierst. Aus zwei Gründen: Für deine charakterliche Festigung und für die Vertiefung deines Wissens. Du wirst in diesem Praktikum bei der Vorbereitung und beim Aufschluß bergbaulicher Großvorhaben mitwirken, und zwar etwa ein halbes Jahr beim Titanaufschluß in der Antarktis, dann in der Meeresversuchsstation bei Manihiki, und schließlich wirst du am Vorhaben Erg In Asaken teilnehmen. Ein entsprechender Vertrag ist vorbereitet. Die in unserem ersten Schreiben genannten Bedingungen bleiben bestehen. Bei Erfüllung der Leistungskennzahlen erhältst du während der zwei Jahre – so lange wird es insgesamt sicher dauern – die für ein Intensivpraktikum festgelegten Leistungsbons. Abreise zu deiner ersten Station, der Antarktis, ist am Dienstag mit dem Vierzehn-Uhr-Flug nach Moskau.«
Mattau erläuterte noch einige Aufgaben, sagte etwas über die Bedingungen in der Antarktis und in den übrigen Objekten. Aber Thomas hörte kaum noch zu. Ihm war eine Welt eingestürzt.
In die Wüste schicken sie mich, sagte er sich, zur Erlangung charakterlicher Reife, wie Mattau sich ausgedrückt hat. Dieser Staatssekretär in seiner ruhigen, überlegenen Art brachte ihn auf. Du hast leicht reden hinter deinem Schreibtisch, dachte Thomas. Er war sich zwar im nächsten Augenblick bewußt, daß es jener Henry Mattau war, der vier Jahre lang unter schwersten Bedingungen die Station Mars I mit errichtet hatte. Aber das zählte jetzt nicht, jetzt sollte er in die Antarktis, und jetzt saß Henry Mattau gepflegt in einem behaglichen Zimmer und hatte, solange er sich auf seine Mitarbeiter verlassen konnte, nicht
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