Kastner, Erich
Schublade. Sie hatte es wohl selber hineingelegt und über wichtigeren Geschäften vergessen gehabt. Als erste Abgesandte klingelte meine Kusine Dora bei uns. Sie erzählte, was sich zugetragen habe, und überbrachte herzliche Grüße. »Du kannst nichts dafür«, sagte meine Mutter zu ihr, »aber es wird das beste sein, wenn du machst, daß du fortkommst.« Tags darauf erschien Frieda, die Perle, doch auch sie stand sehr bald wieder auf der Straße. Am nächsten Tage kam Tante Lina, trotz ihrer Krampfadern, die Treppen heraufgeächzt »Es ist schon gut, Lina«, sagte meine Mutter. »Ich hab dich gern, das weißt du ja. Doch wer meinem Jungen zutraut, er sei ein Dieb, den kenn ich nicht mehr.« Damit schlug sie der Tante die Tür vor der Nase zu.
Als wieder ein Tag vergangen war, fuhr vorm Haus eine Kutsche vor, und Onkel Franz kletterte heraus! Er vergewisserte sich, ob die Hausnummer stimme, verschwand im Tor und stand kurz darauf, zum erstenmal in seinem Leben, vor unsrer Tür. »Nanu!« meinte meine Mutter. »Was willst du denn hier?« »Sehen, wie ihr wohnt!« knurrte er. »Willst du mich nicht hineinlassen?«
»Nein!« sagte meine Mutter. Doch er schob sie beiseite und trat ein. Wieder wollte sie ihm den Weg versperren.
»Sei nicht albern, Ida!« brummte er verlegen und schob sie vor sich her, als sei er eine Dampfwalze.
Die Unterhaltung, die Bruder und Schwester miteinander in Paul Schurigs Zimmer führten, verlief ziemlich laut. Ich saß in der Küche und hörte sie schreien. Es war ein leidenschaftliches Zankduett, und die aufgebrachte Stimme meiner Mutter übernahm mehr und mehr die Führung. Als der Onkel ging, trocknete er sich mit seinem großen Taschentuch die Stirn. Trotzdem schien er erleichtert zu sein. In der Wohnungstür blieb er noch einmal stehen und meinte: »Schön habt ihr’s hier!« Dann ging er.
»Er hat sich entschuldigt«, sagte meine Mutter. »Er hat uns gebeten, die Sache zu vergessen und bald wiederzukommen.« Sie trat ans Küchenfenster und beugte sich hinaus. Drunten kletterte der Onkel gerade wieder auf den Kutschbock, lockerte die Bremse, hob die Zügel, schnalzte mit der Zunge und fuhr davon. »Was meinst du?« fragte meine Mutter. »Wollen wir’s vergessen?« »Ich denke schon«, gab ich zur Antwort. »Also gut«, sagte sie.
»Es wird das beste sein. Schließlich ist er ja mein Bruder.«
Und so wurde es wieder, wie es gewesen war. Ich blickte wieder von der Gartenmauer auf den Albertplatz, trank wieder im kleinen Pavillon Kaffee und trug wieder viel Geld auf die Bank. Die Aktenmappe, worin ich die Scheine und Schecks transportierte, wurde von Mal zu Mal dicker, und der alte Gärtner sagte zu mir: »Ich möchte nur wissen, was er davon hat! Mehr als ein Schnitzel kann er nicht essen. Mehr als einen Hut kann er sich nicht auf den Kopf setzen. Und im Sarg kann er kein Geld ausgeben. Die Würmer fressen ihn gratis und franko.« »Es ist der Ehrgeiz«, meinte ich. Der Gärtner verzog das Gesicht und sagte: »Der Ehrgeiz! Wenn ich das schon höre! Der Mann lebt in seiner eignen Villa als Schlafbursche. Er weiß gar nicht, daß zu dem Haus ein Garten gehört. Er hat in seinem ganzen Leben noch nicht einen Tag Urlaub gemacht. Er wird nicht eher Ruhe geben, als bis er in der Erde liegt und sich die Radieschen von unten ansiebt.« »Sie reden ziemlich viel vom Sterben«, stellte ich fest. Er warf seinen Zigarrenstummel ins Beet, zerhackte ihn mit dem Spaten und sagte: »Das ist kein Wunder. Ich bin von Haus aus Friedhofsgärtner.«
Natürlich hatte er recht. Das Leben, das Onkel Franz und Tante Lina führten, war unsinnig. Sie kamen kaum zum Atemholen. Sie fanden keine Zeit, die Blumen im eignen Garten zu betrachten. Sie wurden immer reicher. Doch wozu eigentlich? Einmal wurde die Tante vom Arzt nach Bad Elster zur Kur geschickt. Nach zehn Tagen war sie wieder da. Sie hatte keine Ruhe gehabt und von kranken Pferden und geplatzten Wechseln geträumt. Wenn Dora Ferien hatte, reiste und wanderte sie mit meiner Mutter und mir, und auch das fand der Onkel höchst überflüssig.
»Sind denn wir als Kinder an der Ostsee gewesen?« fragte er ärgerlich. »Was soll dieser neumodische Quatsch?«
Und als sie, mit fünfzehn Jahren, in ein Pensionat gegeben werden sollte, schickte er sie nicht etwa nach Lausanne, Genf oder Grenoble, sondern nach Herrnhut in Sachsen, ins Töchterschulheim der Brüdergemeinde, wo es so streng und fromm zuging, daß die Ärmste ganz blaß, verhärmt und
Weitere Kostenlose Bücher