Die Nachzüglerin (German Edition)
Die Nachzüglerin
Regine Sondermann
Copyright © 2013 Regine Sondermann, Magdeburg
Erste Auflage
Alle Rechte vorbehalten
.
ISBN-10: 1490351438
ISBN-13: 978-1490352484
Printed in Germany
By Amazon Distribution GmbH, Leipzig
WIDMUNG
Für alle, die nicht aufgeben wollen.
KAPITEL 1
Seine Augen passten nicht zu seinem wilden Aufzug.
Er band sich ein Tuch vor das Gesicht, schwang die
Enden lässig über den Kragen seiner schweren
Lederjacke und sah mich an wie ein Kind auf einem
Plakat. Das Wasser, mit dem er sich die Augen gespült
hatte, bildete Rinnsale auf seiner Haut, um dann hinter
den Kleidern zu verschwinden. Ich gab ihm den
Plastikbehälter zurück, den er mir zum Halten gegeben
hatte.
"Tut das Tränengas sehr weh?", fragte ich ihn.
"Du bist zum ersten Mal in Wackersdorf?"
"Nein", log ich. "Aber ich laufe nicht absichtlich vor
die Wasserwerfer."
"Es ärgert sie. Was machst du hier?", fragte er.
Mein Protest gegen die Atomanlage, meine pflichtschuldig geleistete Anwesenheit schien mir plötzlich
sinnlos.
Am liebsten hätte ich ihm geantwortet: "Ihr könnt
euch noch so viele Palästinensertücher vor die Nase
binden. Ihr seid hier nicht im Gazastreifen."
Stattdessen stand ich stumm da. Er schenkte mir einen
halb spöttischen, halb amüsierten Blick. Nachdem er
mir kurz zugenickt hatte, schob er sich die Flasche in
die Jacke und rannte wieder zu dem meterhohen,
polizeigrün gestrichenen Spezialzaun. Er rannte nicht,
er hüpfte. Während ich mir vor Angst in die Hosen
machte, freute er sich.
Ich stapfte ihm nach durch den aufgerissenen
Waldboden, sah, wie er im Laufen einen Stein aufhob,
wie er sich neben die anderen stellte und in ihren
schwermetallenen Takt einfiel. Sie schlugen auf die
Stahlstäbe und riefen: "Der Zaun muss weg!"
Der Wasserwerfer ließ seinen Motor aufheulen und
fuhr auf die Vermummten zu. Kurz vor dem Zaun
blieb er stehen. "Achtung, hier spricht die Polizei!
Entfernen Sie sich bitte unverzüglich." Als das
Fahrzeug wieder losfuhr, flogen die Steine. Sie
konnten dem gepanzerten Gefährt nichts anhaben.
Viele wurden von der Maschine zu Boden gespritzt.
Der Wald lag plötzlich im Nebel. Ich konnte nichts
mehr erkennen und musste zurückrennen, weil mir die
beißende Substanz in der Nase hochstieg und meine
Augen anfingen zu brennen. Erst als ich wieder frei
atmen konnte, blieb ich stehen.
"Kommt doch raus, ihr Feiglinge, ihr elenden!" Ich
drehte mich um und sah eine alte Bäuerin schimpfen,
die rechte Hand zur Faust geballt. In ihrem schwarzen
Sonntagskostüm sah sie aus wie auf einem Beerdigungszug. Nur ihre Gummistiefel waren der
Beweis dafür, dass sie nicht zufällig hier war. An ihrem
linken Unterarm hing ein Weidenkorb. Gebeugt hinkte
sie auf mich zu. "Hier hast du was zur Stärkung, weil
ihr uns nicht allein lasst." Sie gab mir ein in der Hälfte
zusammengeklapptes Leberwurstbrot. Noch nie hatte
ich eine so große Brotscheibe gesehen. Als ich mich
bei ihr bedanken wollte, beachtete sie mich jedoch
schon nicht mehr. Sie hatte sich schon einem Punk
zugewandt, der nicht weit von mir entfernt stand. Ich
wickelte das Brot in das Flugblatt der MLPD, das ich
bei meiner Ankunft bekommen hatte, und steckte es in
meine Umhängetasche. Wie üblich hatte ich es nicht
geschafft, es bis zum Ende des ersten Absatzes
durchzulesen. Ich machte mich wieder auf den Weg zu
dem Riesenzaun, der eigentlich aussah wie eine
Spielplatzbegrenzung aus vertikalen und horizontalen
runden Metallstäben, die aber etwa zehnmal so dick
wie üblich waren. Auch die Wasserwerfer, die dahinter
positioniert waren, schienen die Leute anzuziehen,
anstatt sie zu verjagen.
Als hätte sie den Ruf der alten Frau gehört, änderte die
Polizei ihre Vorgehensweise. Mit lautem Geschepper
öffnete sich eine Zauntür. Eine Hundertschaft von mit
Helmen und Plastikschilden gesicherten Beamten
stürmte auf die Menge los. Mit Knüppeln trieben sie
uns zurück. "Haut ab!", schrie ich mit den anderen.
Neben mir sah ich einen Jungen mit aufgeplatzten
Lippen. Einer Frau, die am Kopf blutete, legte ich den
Arm um die Schulter und floh mit ihr nach hinten.
Einige von uns hatten sie herausgegriffen und
schleiften sie an Armen und Beinen ins Baugelände.
Wir warteten im Schutz der Bäume auf die
Demosanitäter. Scheinbar hatten die Polizisten die
Anweisung, nur den gerodeten Bereich freizumachen.
Als sie sich wieder zurückgezogen hatten, begann das
"Spiel" von neuem.
Ich blieb im Wald und setzte mich auf einen
regennassen Baumstamm und zog das
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