Katharsia (German Edition)
Er wusste, wer hier abstürzte, dem half auch nicht, dass er schwimmen konnte. Aus den Schlingpflanzen gab es kein Entkommen.
Der Rest der Clique sah ihren Anführer erwartungsvoll an. Würde er sich trauen?
Sando überkam ein merkwürdiges Gefühl. Zum ersten Mal spürte er, dass er Macht hatte über den, der ihn seit Jahren peinigte. Er, Sando, den sie immer als Feigling beschimpften, balancierte auf den gefährlichen Seilen und Mike Lemming war der Getriebene. Er durfte jetzt, wenn er seine Autorität wahren wollte, nicht kneifen.
Sando beobachtete, wie sich sein Widersacher zähneknirschend einen Ruck gab und mit weichen Knien das unsichere Terrain betrat. Vorsichtig tastete er sich voran, folgte Sando, der bereits die Insel erreicht hatte. Auf sicherem Boden stehend, drehte er sich um und beobachtete Mike, der mit keuchendem Atem langsam und sehr vorsichtig Schritt vor Schritt setzte, den Oberkörper vorgebeugt, um die Seile besser sehen zu können.
„Na, Lemming? Da machst du dir vor Angst in die Hosen, was?“, schrie Sando.
Lemming richtete sich zornig auf. Eine impulsive Bewegung. „Halt die Fresse, du Hasenschar…“
Ein dumpfes Klatschen. Dort, wo Lemming untergetaucht war, blubberte es geraume Zeit. Doch der Junge tauchte nicht wieder auf. Am Ufer ertönte ein Entsetzensschrei.
Lange noch hallte er wider in diesem rätselhaften Schlund, durch den Sandos Seele glitt, hemmungslos schluchzend.
Endlich verwandelte sich die Dunkelheit in einen silbrigen Schimmer. Der Schlund öffnete sich und schleuderte Sando hinaus in ein strahlendes Leuchten, in ein übermächtiges Licht, wie er es nie zuvor gesehen hatte. Dazu Töne, nein, Harmonien, so anrührend, dass er vor Glück wie berauscht war.
Wenn das die Hölle ist, will ich hierbleiben , dachte er. Alle Anspannung war wie weggeblasen, die Trauer verflogen. Eine große Ruhe überkam ihn. Er schwebte im Licht, ein Lichtwesen in einer Lichtwelt. Alles, was ihn umgab, war Licht. Und dennoch gab es keinerlei Konturen. Es war wie in einem leuchtenden Nebelmeer, in dem es keine Unterschiede gab.
Sando genoss dieses schwerelose Gleiten, dieses Gefühl, angekommen zu sein und geborgen wie der Fötus im Mutterleib. Doch Sando war kein Fötus, er war die Seele eines aufgeweckten vierzehnjährigen Jungen, eine arg geschundene Seele freilich, die Schreckliches zu verdauen hatte. Aber dieser konturenlosen Welt, dieses Nebelreiches war er sehr schnell überdrüssig. Irgendwo musste doch etwas sein. Eine Landschaft, ein Berg, ein Baum, irgendetwas, was in der Lage war, seine Sinne zu reizen.
Sando begann, sich zu regen, geisterte mal in die eine Richtung, mal in die andere. Und siehe da – sanft schwebte er gegen ein Hindernis. Sanft wurde er zurückgestoßen wie von einer Gummiwand.
Wie kann das sein , dachte er. Ich konnte durch das Dach des Busses entkommen, ohne etwas davon zu spüren. Was kann mich hier aufhalten?
Neugier keimte auf. Dieses Reich schien seine eigenen Geheimnisse zu haben. Er stellte fest, dass er nach kurzem Schweben immer wieder an diese rätselhafte Wand stieß. Er schien in einer Art Kugel oder Blase gefangen zu sein.
Mit der inneren Ruhe war es nun vorbei. Was tun?
Das Naheliegende natürlich: einen Ausgang suchen! Von oben beginnend, zog er nun Kreise in Spiralen nach unten.
Nichts, die Wand war glatt. Es schien weder Türen noch Öffnungen zu geben.
Enttäuscht hielt er inne. Sollte er es noch einmal versuchen? Immerhin war der Nebel so dicht, dass er etwas übersehen haben könnte. Langsam und sehr sorgfältig wiederholte er die Prozedur, doch die Wand seines Gefängnisses war makellos. Er fand nicht die geringste Unebenheit, nichts, was den Blick auch nur für eine Sekunde gefesselt hätte.
Als er die Suche abbrach, mussten Stunden vergangen sein. Sando war entnervt. Die süßlichen Harmonien, die unaufhörlich durch den Nebel waberten, kamen ihm vor wie Hohn.
„Ruhe!“, schrie er. „Könnt ihr nicht mal eine andere Platte auflegen?“
Doch der Aufschrei verpuffte wie in Watte.
Wütend und planlos begann er wieder, Kreise zu ziehen. Irgendetwas musste er doch übersehen haben?! Er geisterte immer schneller, immer hektischer durch dieses makellos glatte Nichts.
Das kann es doch nicht gewesen sein?! Eingesperrt in einem Lichtgefängnis, einer Nebelhölle. Gefoltert durch die Abwesenheit jeglicher Sinneseindrücke. War das der Tod? War er verurteilt zur ewigen Langeweile?
Zornig wuselte er durch sein Gefängnis wie ein
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