Katharsia (German Edition)
kamen ihm in den Sinn: Für euch hat Gott nur die Hölle! War er, Sando Wendelin, bereits auf dem Weg dorthin inmitten dieser alles verschlingenden Finsternis?
Plötzlich von irgendwoher ein gellender Schrei. Sando schreckte auf aus seiner dumpfen Angst. Vor seinen Augen, zum Greifen nah, erschien ein kleiner Junge. Vier oder fünf Jahre alt mochte er sein. Dicke Zornestränen glitzerten auf seinen schmutzverschmierten Wangen.
„Was ist mit dir?“, fragte Sando, verwundert über die Begegnung an diesem grausigen Ort. „Warum weinst du?“ Doch der Kleine antwortete nicht, blickte trotzig durch ihn hindurch. Erst jetzt bemerkte Sando die Ruine einer Sandburg, vor der der Junge saß. Irgendjemand musste sie zertrampelt haben.
„Hör auf zu weinen“, sagte er tröstend. „Komm, ich helfe dir, sie wieder aufzubauen.“
Er griff nach der Schaufel, die der Junge umklammert hielt. Doch unversehens schleuderte ihm der Kleine eine Hand voll Sand ins Gesicht. Sando zuckte zurück, erwartete einen stechenden Schmerz in seinen Augen. Doch der blieb aus. Im Gegenteil – er spürte nicht den Hauch einer Berührung. Mit Erstaunen stellte er fest, dass der Sand durch ihn hindurch geflogen war.
In seinem Rücken plötzlich ein Aufschrei. Sando fuhr herum und sah, wem der Angriff des Kleinen gegolten hatte. Ein kräftiger Bursche von etwa sieben Jahren führte dort, brüllend vor Schmerz, einen wahren Veitstanz auf. Sando erkannte ihn. Es war Mike Lemming, ein größerer Junge aus der Nachbarschaft. Nur war er viel jünger als an dem Tag, da Sando ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Was bedeutete diese Szene, die offenbar weit zurücklag und deren Zeuge er hier wurde?
Zwei Frauen tauchten auf. Sie schienen sich zu streiten. Bald darauf zog die eine Mike Lemming mit sich fort. „Hasenscharte!“, höhnte er noch aus der Ferne.
Hasenscharte? Sando zuckte zusammen. Die andere Frau wandte sich ihm zu. Er erkannte seine Mutter. Sie streckte die Arme nach ihm aus, kam auf ihn zu. Aus ihrem Blick sprachen Zärtlichkeit und Sorge. Er wollte sie umarmen, doch sie lief durch ihn hindurch, nahm den Kleinen auf ihren Schoß und versuchte, ihn zu trösten. „Der Junge, das bin ich!“, murmelte Sando und sah zu, wie die Mutter ihn an sich drückte.
„Hasenscharte!“, kreischte es wieder aus der Ferne.
Der Kleine jaulte auf. Hilflose Wut lag in seinen Augen, als er erneut Sand in die Richtung schleuderte, aus der der Ruf gekommen war.
Das war der Beginn einer zuverlässigen Feindschaft , dachte Sando.
Die Szene begann zu verblassen, blieb im Dunkel des Tunnels zurück.
„Du musst tapfer sein, Sando. Es tut bestimmt nicht weh. Bald kommst du in die Schule, da soll doch dein Mund richtig schön sein, nicht wahr? Dann geht es auch mit dem Sprechen besser.“
Es war die Stimme seines Vaters.
Aus der Dunkelheit tauchte ein Krankenzimmer auf. Sando lag im Bett, die Augen vor Angst geweitet. Der Vater saß bei ihm, streichelte seine Wangen und sprach beruhigend auf ihn ein. Am Fußende standen ein Arzt und eine Schwester. Sie hielt ein nierenförmiges Metallschälchen bereit.
„Der Doktor wird dir gleich eine kleine Spritze geben, Sando. Ein Pieks nur. Du schläfst ein und merkst gar nichts.“
Der Vater stand auf, machte dem Doktor Platz. Der ging auf Sando zu, schob ihm den Ärmel hoch. Mit einem feuchten Wattebausch säuberte er eine Stelle am Unterarm, dann der Einstich. Das Bild wurde unscharf und verschwand in der Tiefe des Tunnels.
Sandos Seele drängte weiter. Wann kam er nur heraus aus dieser Enge?
Einzelne Töne schwangen ihm aus der Finsternis entgegen. Sie kamen immer näher. Es war ein Klavier, auf dem ungeübte Kinderhände spielten. Dann eine Frauenstimme: „Nein, Sando, das ist ein Fis. Sieh mal das Kreuz. Das heißt, dass du nicht F sondern Fis spielen musst.“
Nun tauchte das Bild, das dazu gehörte, vor Sando auf: Er saß am Klavier, es musste kurz vor seiner Einschulung sein, und lauschte andächtig den Worten Marias, seiner Klavierlehrerin. Er hing an ihren Lippen, ohne jedoch ihre Anweisung zu befolgen.
Sie bemerkte seinen Blick und fragte: „Hast du mich verstanden, Sando?“
„Ja, ich soll Fis spielen. Aber …“
„Aber?“
„Ich möchte, dass du jetzt spielst, Tante Maria. Du spielst so schön.“
Maria lachte, setzte sich zurecht und begann zu spielen. Ein Stück von Chopin.
Der Zauber ihres Spiels rührte Sando, begleitete ihn ein Stück auf seinem Weg durch die Finsternis.
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