Katharsia (German Edition)
kamen und gingen. Geschehnisse, die sich tief eingebrannt hatten in seine Seele: sein erster Tag in der Schule, Geburtstagsfeiern und Weihnachtsfeste, seine ersten Erfolge am Klavier. Er sah sich auf Schulkonzerten spielen, hörte, wie er zunehmend an Sicherheit gewann, erlebte Marias Freude, deren glückliche Umarmungen nach jedem Konzert, ja, sogar ihr Duft schien durch diesen finsteren Ort zu wehen.
Aber es gab auch die düsteren Szenen: Wiederholt tauchte Mike Lemming auf, der Nachbarsjunge, der ihn mit seinem Hass und seiner Häme verfolgte: „Hasenscharte!“
Der Ruf griff um sich wie eine Seuche, nagte an seinem Selbstbewusstsein. Zuerst hatten es nur die Jungen auf ihn abgesehen, später dann, was noch schlimmer war, hänselten ihn auch die Mädchen. Und da er nicht wusste, wie er sich wehren sollte, und es vorzog, Mike und seiner Gefolgschaft aus dem Wege zu gehen, kam bald ein weiterer Ruf hinzu: „Feigling!“
Selten noch zeigte er sich draußen. Er zog sich zurück, übte Klavier, lernte für die Schule, gehörte zu den Klassenbesten, doch glücklich war er nicht.
„Ab an die frische Luft, Junge! Du wirst ja immer blasser.“
Die Stimme seines Vaters dröhnte durch den schwarzen Schlund.
Sando stöhnte auf.
„Ab an die frische Luft!“
Das war der Satz, den Sando am meisten fürchtete, denn er trieb ihn hinaus, dorthin, wo Mike Lemming lauerte. Es war die pragmatische Lösung des Vaters: Blässe bekämpfte man mit frischer Luft. Dass etwas anderes dahintersteckte als Sauerstoffmangel, wusste nur Maria.
„Ab an die frische Luft!“
Ein neues Bild tauchte auf: Sando balancierte auf zwei rostigen Stahlseilen über der spiegelglatten Wasserfläche des Schwarzen Sees, einer abgesoffenen Kiesgrube unweit seines Elternhauses. Die Seile verbanden das Ufer mit einer kleinen Insel in der Mitte des Gewässers und mochten einst dem Transport von Kies gedient haben. Der Balanceakt war gefährlich, denn unter der Oberfläche lauerte ein Dickicht aus Schlingpflanzen. Nach dem Tod eines allzu wagemutigen Burschen hatte man den See eingezäunt und den Zutritt verboten. Ein idealer Rückzugsort. Hierher floh Sando immer, wenn er an die „frische Luft“ geschickt wurde. Auf der kleinen Insel fühlte er sich sicher und der gefährliche Weg hinüber gab ihm das Gefühl, kein Feigling zu sein.
Der See zog vor seinen Augen vorüber und löste sich auf. Doch Sando erschauerte in der Vorahnung dessen, was nun an Bildern aus der Finsternis erstehen musste.
Zu seiner Erleichterung hörte er Klaviermusik: dasselbe Stück von Chopin, das sich Sando als kleiner Junge immer von Maria gewünscht hatte.
Dieses Mal saß er selbst am Flügel. Die Aula war brechend voll. In der ersten Reihe saßen mit strahlenden Augen Mutter und Vater. Neben ihnen Maria, die vor Aufregung rote Flecken im Gesicht hatte.
Sando spielte mit Leidenschaft, doch dann setzte er plötzlich aus. Er hatte den Faden verloren.
Stille im Saal. Sando kratzte sich verlegen am Kopf, starrte auf die Noten und blickte zu Maria. Sie nickte ihm zu, hob die Hand, um ihm zu zeigen, dass sie ihm die Daumen drückte. Sando atmete tief durch und spielte weiter.
Als der Beifall aufbrandete, sprang Maria auf die Bühne. „Das war großartig, Sando!“, rief sie und drückte ihn fest an sich. Dann bemerkte sie seine traurigen Augen und setzte hinzu: „Vergiss den kleinen Aussetzer! Entscheidend ist, dass du mit Seele gespielt hast.“
Rasch verhallte der Applaus in der engen Röhre.
„Ab an die frische Luft!“
Sando fand sich wieder am Schwarzen See. Er saß am Ufer und starrte gedankenverloren hinüber zur Insel. Über den Himmel zogen dunkle Wolkenfetzen.
„Feigling!“
„Hasenscharte!“
Die Rufe schreckten ihn auf. Mike Lemming und seine Clique waren ihm zum See gefolgt. Zorn kochte hoch in Sando. Er schrie: „Wenn hier einer feige ist, dann du, Lemming!“
Er erntete höhnisches Gelächter. Lemming und die anderen drangen auf ihn ein. Er wich zurück in Richtung Teich. Schließlich blieb ihm nur ein Fluchtweg: die Stahlseile hinüber zur Insel! Er schwang sich hinauf, tastete sich schrittweise vor. Nur nicht hektisch werden jetzt , sagte er sich. Nur nicht abrutschen!
Lemmings Leute waren am Ufer stehen geblieben und wagten es nicht, ihm zu folgen. Sando schrie seinen Hass hinaus: „Lemming, du Feigling! Komm doch her – oder traust du dich nicht?“
Er sah, wie Lemming schluckte, genoss dessen Angst, über die schwankenden Seile zu gehen.
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