Katharsia (German Edition)
ist als der Verstand, weil sie nicht fragt nach dem Für und Wider, weil sie nicht ängstlich abwägt, welches Verhalten den größten Vorteil verspricht.
„Sie geben mir jetzt ihr Telefon!“ Maria griff nach der Brusttasche des Fremden, aus der der kurze Stummel einer Mobilfunkantenne ragte.
Der Fremde riss seine Pistole hoch.
„Nein!“, rief Sando.
Gleichsam in Zeitlupe sah er, wie sich der Zeigefinger des Mannes am Abzugshahn krümmte. Eine Kugel kroch aus dem Lauf der Pistole, geschoben von einem Feuerblitz. Sando wollte ihr zuvorkommen, sich dazwischenwerfen, Maria beschützen. Warum kam er nicht schneller voran? Bald würde die Kugel Marias Brust erreichen und er brauchte eine Ewigkeit für jeden Zentimeter.
Ich muss es schaffen , schrie es in ihm. Ich muss ihr das Leben retten! Doch so sehr er sich bemühte, die Kugel war schneller. Voller Grauen sah Sando, wie das Geschoss Marias Haut aufriss und in ihre Brust eindrang. Er sah ihren verwunderten Blick und ihre Beine, die den Halt verloren, hörte den vielstimmigen Entsetzensschrei der Insassen des Busses und dann lag Maria regungslos da – nicht weit von seinem eigenen Körper.
Lähmende Stille herrschte nun. Niemand wagte es, sich zu rühren. Selbst die Geiselnehmer waren wie erstarrt, schienen von der überraschenden Zuspitzung der Lage betroffen zu sein. Schließlich zuckte der Vermummte, der auf Maria geschossen hatte, mit den Schultern und murmelte leise: „Für Ungläubige hat Gott nur die Hölle.“
Auf diesen Satz hin begann jemand, hemmungslos zu schluchzen. Sando vernahm nur unartikulierte Laute, in denen hin und wieder das Wort „Maria“ auftauchte. Laute solcher Pein, wie sie Sando noch nie gehört hatte. Und es dauerte lange, bis er begriff, dass er selbst es war, der so weinte. Alles in ihm schrie nach Maria. Eine entsetzliche Leere erfasste ihn. Und als er glaubte, den Schmerz nicht mehr länger ertragen zu können, spürte er etwas wie einen Hauch. Sein Schreien erstarb und wich einer großen Verwunderung.
Maria schwebte neben ihm. Er konnte sie sehen – und sie sah ihn. So verharrten sie reglos, schauten einander verwirrt an, bis sie zu lächeln begann, bis sie auf ihn zuflog, ihn voll und ganz durchdrang.
Der Hauch in Sando wurde zum rasenden Sturm. Er fühlte sich emporgerissen. Eins mit Maria schwebte er durch das Dach des Busses. Sie jagten den Wolken entgegen. Schon war der Bus nur noch ein grauer Punkt in der rot-grün gemusterten Landschaft. Mit rasender Geschwindigkeit entfernten sie sich von dem grausamen Geschehen. Doch Maria war schneller. Sie flog ihm voraus und er vermochte ihr nicht zu folgen.
„Maria, warte auf mich!“, rief Sando.
Sie wandte sich um, schien ihm etwas zuzurufen, doch er konnte nichts hören. War es dieser Sturm, der ihn umtoste? War es die Entfernung zu ihr, die stetig wuchs? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er sich danach sehnte, bei ihr zu sein. Aber Maria entschwand und die Trauer war wieder da.
DER ÜBERGANG
Er raste dahin und spürte eine Kraft, die ihn drängte, einen weiten Bogen zu fliegen. Er wollte sich widersetzen, die Richtung seines Fluges selbst bestimmen, doch es gelang ihm nicht. Im Gegenteil. Die Kraft wurde stärker, der Bogen immer enger, bis er zur Spirale wurde. Sein Tempo wuchs mit jedem Umlauf. Stieg er oder stürzte er? Er hatte kein Gespür dafür, denn es gab kein Oben oder Unten mehr, nur noch dieses wahnsinnige Kreisen. Und endlich begriff er, dass es ihn in einen Strudel zog, in dessen Zentrum ein schwarzes Loch lauerte. Langsam schwand das Licht, wurde zur Finsternis, die nach ihm griff, die ihn bedrängte, sich um ihn zusammenzog.
Sando schauderte und eine dumpfe Angst kroch aus der Tiefe seiner Seele: Er meinte zu ersticken in diesem Schlund, der ihm die Luft nahm. Würde er für immer darin gefangen sein? Einsam und fern von Maria?
Maria!
Zu allem Überfluss gesellte sich zur Angst nun wieder die Trauer. Warum war sie davongeflogen? Sie war doch immer für ihn da gewesen. Sie kannte seine Ängste, wusste, wie er litt unter der Narbe an seiner Lippe, die den Mund etwas schief zog. Beim Klavierspiel, sobald er in die Tasten griff, hörte sie sofort, ob etwas mit ihm nicht stimmte. Und sie nahm sich die Zeit, fragte nach, sprach mit ihm über Liebe und Hass, über Treue und Verrat, nur über eines hatten sie nie gesprochen: über die Trauer. Wie sollte er jetzt damit fertig werden, so allein in diesem engen Schlund?
Die Worte des Geiselnehmers
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