Katrin Sandmann 01 - Schattenriss
gleich vorbei.“
„Sieht so aus, als ob du ziemlich im Stress wärst, Katrin. Danke, dass du die Aufnahmen für mich trotzdem dazwischen geschoben hast.“ Eva Sandmann klang ein wenig besorgt. Sie befürchtete immer, dass ihre Tochter sich zuviel aufhalste. Als Katrin sich als Fotografin selbstständig gemacht hatte, war ihr das zunächst gar nicht recht gewesen. Schließlich hatte sie das nicht nötig. Sollte sie doch lieber erst mal ein wenig das Leben genießen. Und dann später vielleicht studieren. Aber Katrin war stur geblieben. Sie wollte auf eigenen Beinen stehen. Ihr Vater hatte sie besser verstanden: Lass unsere Tochter mal machen. Katrin weiß am besten, was gut für sie ist. Sie wird schon klar kommen. „Vielleicht hast du ja heute Abend Zeit. Ich geh mit Marianne und Anita im Club essen. Komm doch mit. Dann kannst du ein wenig abschalten ,“ schlug Eva Sandmann ihrer Tochter vor.
Die Freundinnen ihrer Mutter waren das Letzte, was Katrin heute Abend gebrauchen konnte. Sie redeten ohne Pause über exklusive Mode, mondäne Urlaubsziele und die letzte Benefizveranstaltung, die sie erfolgreich organisiert hatten. Da fuhr sie lieber zu ihrer Freundin Roberta und spielte mit deren drei kleinen Kindern Memory mit verklebten, schokoladenbeschmierten Karten.
„Lieber nicht, Mama, ich glaube, ich brauche einfach einen ruhigen Abend zu Hause. Trotzdem vielen Dank.“
Als sie aufgelegt hatte, ging sie ins Wohnzimmer und legte sich einen Augenblick lang auf die Couch. Sie war erschöpft und hatte das unbestimmte Gefühl versagt zu haben. Sie musste an das Foto im Fernsehen denken, an dieses düstere, ausdruckslose, schwarzweiße Gesicht. Wie es wohl den Eltern dieses Mädchen ergehen mochte? So wie Melanies Eltern? Sie sah sie am Grab stehen, als wäre es erst gestern gewesen. Damals war November. Grau, düster, kalt. Melanies Mutter trug diesen unmöglichen Rock. Hässlich ausladende, schwarze Rüschen. Ihr Gesicht war blass, beinahe weiß und ihre Augen starrten so seltsam ins Nichts. Etwas in diesen Augen hatte Katrin Angst gemacht. Aber sie hatte zu spät begriffen, was dieser eigenartig leere Gesichtsausdruck für eine Bedeutung hatte. Rupert kam auf die Couch gesprungen und ließ sich auf ihrem Bauch nieder. Sie kraulte ihn gedankenverloren und sein lautes Schnurren übertönte ihre Grübeleien.
Das Telefon schrillte erneut. Katrin ließ es klingeln. Aber es hörte nicht auf. Schließlich schob sie Rupert sanft zur Seite und ging in die Diele.
„Frau Sandmann? Hauptkommissar Halverstett .“
Katrin zuckte zusammen.
„Ja, bitte?“
„Könnten Sie vielleicht morgen Vormittag noch einmal vorbeikommen?“
„Was gibt es denn noch? Ich dachte, es wäre alles geklärt?“
„Ich würde gern noch einmal mit Ihnen sprechen.“
„Ich bin selbstständig. Ich habe viele Termine. Ich möchte schon wissen, was plötzlich so wichtig ist.“ Sie hatte am nächsten Morgen gar nichts vor, aber das musste sie dem Kommissar ja nicht auf die Nase binden. Was er wohl noch wollte? Vielleicht hatten sie ja den Engel gefunden? Sie vernahm ein ungeduldiges Geräusch am anderen Ende der Leitung.
„Die Obduktion hat ergeben, dass Fremdeinwirkung nicht mehr ausgeschlossen werden kann.“
„Wie bitte?“
„Ich kann Ihnen wirklich keine Details aus einer laufenden Ermittlung nennen, Frau Sandmann, aber es sieht so aus, als wäre das Mädchen nicht allein auf dem Friedhof gewesen.“ Halverstetts Stimme klang ein wenig gereizt. Er machte eine Pause. Katrin wartete. Schließlich sprach er weiter. „Sie hatte offensichtlich kurz vor ihrem Tod noch Geschlechtsverkehr.“ Wieder eine Pause. „Und außerdem gibt es da ein paar sehr merkwürdige Verletzungen …“
2
Der Verkehr quälte sich stockend durch die sechs Fahrspuren der Corneliusstraße. Ein gewöhnlicher Dienstagnachmittag, fünf Uhr. Es war ein warmer, sonniger Maitag. Eine Wohltat nach diesem grässlichen Regenwetter am Wochenende. Montagvormittag war der Regen zwar allmählich abgeebbt, aber der Boden auf dem Friedhof war abends noch ganz aufgeweicht gewesen. Er hatte die Hose weggeschmissen, und das schlammige, blutverschmierte Hemd auch. Es war entsetzlich stickig in dem Auto. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Sie war nass. Verdammter Berufsverkehr. Er hätte später losfahren sollen. Mit hektischen, ruckartigen Bewegungen kurbelte er das Fenster herunter. Die kühle Abendluft strömte in den Wagen. Trotzdem klebte das Hemd an seinem
Weitere Kostenlose Bücher