Katrin Sandmann 01 - Schattenriss
sie versuchte, so ungerührt wie möglich ihr Frühstück zu beenden und dabei mit einem Auge die Nachrichten im Fernsehen zu verfolgen.
Plötzlich hielt sie inne und fixierte den Bildschirm. Langsam ließ sie den Löffel sinken. Die Kamera schwenkte über eine Reihe Gräber. Südfriedhof. Genau dort war sie gestern Abend gewesen. Sie griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton lauter.
„Es handelt sich um die Leiche eines etwa sechzehnjährigen jungen Mädchens, das bisher noch nicht identifiziert werden konnte. Die Polizei bittet um Hinweise, die Aufschluss über die Identität der Toten geben können.“ An dieser Stelle wurde ein Foto der Leiche eingeblendet, grobkörnig und dunkel. Das Gesicht mit den geschlossenen Lidern wirkte ausdruckslos und starr. Katrin schauderte. Ob das Mädchen ermordet worden war? Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Das dort auf dem Bildschirm hätte genauso gut ihr Gesicht sein können. Sie war am Tatort gewesen. Gestern Abend. Vielleicht hatte der Mörder schon irgendwo gelauert und auf eine günstige Gelegenheit gewartet. Dann erschien die Sprecherin im Studio. Sie verlas die Telefonnummer der zuständigen Polizeidienststelle. Während sie sprach, wurde im Hintergrund eine Aufnahme des Tatorts gezeigt.
Katrin legte die Fernbedienung auf den Tisch. Sie starrte auf das kleine Fernsehgerät, als wollte sie das Bild in sich einsaugen. Das Stück Friedhof war mit rotweißem Plastikband abgesperrt, auf der rechten Seite parkte ein Polizeiwagen und der Rücken einer Person versperrte den Blick auf die linke Bildhälfte. Trotzdem erkannte sie die Stelle sofort. Die Reihe alter Grabsteine, die windschiefen Birken. Es war fast identisch mit ihrem eigenen Foto. Nur der kleine Engel mit dem abgebrochenen Flügel fehlte.
Hauptkommissar Klaus Halverstett stieg aus dem Auto und betrachtete die einförmige Reihe blaugelb gestrichener, trister Mietshäuser. Wie jedes Mal, wenn er solche trostlosen Wohnblöcke sah, dachte er mit Erleichterung an sein eigenes Zuhause. Er lebte in einem weiß verputzten, spitzgiebligen Häuschen in Gruiten , einem kleinen Ort, der auf den Hügeln oberhalb des Neandertals thronte, wo die Luft nach frisch gemähtem Gras roch und er die Nachbarn beim Namen kannte. Halverstett schlug die Wagentür zu und schloss ab. Zögernd setzte er sich in Bewegung. Er seufzte. Er hasste sie, diese ersten Besuche bei den Hinterbliebenen. In all den Jahren seines Berufslebens hatte er sich nicht daran gewöhnt. Er hatte sich an den Anblick der Leichen gewöhnt, an ihre hässlichen, oft entstellten Körper. Aber angesichts des Schocks und der Trauer von Eltern, Geschwistern oder Ehepartnern fühlte er sich jedes Mal hilflos und befangen.
Gott sei Dank hatten ihm diesmal zwei Kollegen den schwierigsten Teil der Arbeit abgenommen. Vierundzwanzig Anrufe waren innerhalb von wenigen Minuten nach der Ausstrahlung des Fotos in den Regionalnachrichten eingegangen. Neunzehn Anrufer hatten den gleichen Namen genannt: Tamara Arnold, eine fünfzehnjährige Schülerin aus Eller . Sie war nicht als vermisst gemeldet. Die Kollegen hatten der Mutter das Foto gezeigt und sie hatte ihre Tochter identifiziert.
Klaus Halverstett ging die Häuserzeile entlang. Familie Arnold wohnte in Nummer dreiundfünfzig. Der Türöffner summte unmittelbar nachdem er geklingelt hatte. Er wurde bereits erwartet. Dieter Arnold empfing ihn an der Tür. Er war groß, schlank, grau meliert und trug einen hellen Anzug, Hemd und Krawatte. Er wirkte gefasst und nickte nur kurz, als der Polizeibeamte sich vorstellte. In der Wohnung roch es nach angebrannten Zwiebeln und einem stark parfümierten Putzmittel. Dieter Arnold führte Halverstett durch eine vollgestellte Diele mit schweren Eichenmöbeln. Es war vollkommen still. Der dunkle, weiche Teppich schluckte sogar den Schall ihrer Schritte. Sie betraten ein kleines, helles Wohnzimmer. Die Mittagssonne strahlte durch die Fenster. Eine ausladende Couchgarnitur mit Blumenmuster nahm fast den gesamten Raum ein. Über den Rückenlehnen der zwei Sessel und des Sofas hingen runde, weiße, offensichtlich selbstgehäkelte Deckchen und auf dem Marmortisch in der Mitte stand ein Gesteck aus blassrosa Plastiknelken. Gegenüber den beiden Fenstern befand sich eine massige mahagonifarbene Schrankwand. Alles war aufgeräumt und peinlich sauber.
In der Mitte des Sofas saß Sylvia Arnold. Sie hockte auf der vorderen Kante, den Oberkörper leicht nach vorn geneigt und die Beine
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