Kaylin und das Geheimnis des Turms
den offenen Torbogen und an der nächsten Wand entlangglitt. Selbst ohne zu atmen, war es ihr unmöglich, sich an einen Barrani-Falken heranzuschleichen, das wusste sie genau. Sie versuchte es seit sieben Jahren.
“Kaylin”, sagte er und blickte auf. Seine Augen waren von diesem bodenlosen Grün, das jeden Schmuck überflüssig machte. Es bedeutete andererseits auch, dass er glücklich war. Oder wenigstens so glücklich, wie Barrani jemals wurden, wenn sie nicht gerade jemanden umbrachten oder eine für menschliche Augen unsichtbare politische Auseinandersetzung gewannen.
Wenn Leontiner nicht dazu in der Lage waren, zu schauspielern, waren Barrani ihr genaues Gegenteil: Es war ihnen nicht möglich, nicht zu schauspielern. Unsterblich, unfassbar schön und unglaublich gelassen, hatten sie eine heimliche Liebe dafür, sich selbst zur Schau zu stellen. Auch das hatte sie erst nach mehreren Jahren begriffen.
Sie besaßen ein großes Talent darin, herablassend zu sein, was Tain jetzt gerade den Büroangestellten vorführte. Er hielt Münzen in seiner Hand.
Hätte
sie
gewonnen, sie hätte es wohl nicht so gemacht. Aber bei den Barrani gab es so etwas wie freundschaftliche Wetten nicht, und niemand – nicht einmal die Männer und Frauen, die dem Namen nach ranggleich mit ihnen sein sollten – wollte bei einem Barrani in der falschen Art von Schuld stehen.
Das hielt sie natürlich trotzdem nicht davon ab, zu wetten. Sie bildete sich etwas darauf ein, dass sie es gewesen war, die diesen Zeitvertreib im Büro eingeführt hatte. Es war einer der wenigen, der ihr in ihrer Kindheit Spaß gemacht hatte. Andererseits, jeder, der im falschen Teil der Stadt aufgewachsen war – jener riesigen Nachbarschaft, die im richtigen Teil der Stadt umgangssprachlich als die Kolonien bezeichnet wurde –, hatte Spaß an Glücksspielen. Es gab nicht viel anderes, was einem dort Freude am Leben bereiten konnte.
Sicherlich nicht seine Kürze.
Sie zuckte mit den Schultern und ging auf Tain zu. “Du hast gewonnen?”
“Sieht so aus.” Einer seiner Zähne war abgebrochen, wodurch sein Lächeln fast natürlich wirkte. Dadurch konnte man ihn auch von den anderen unterscheiden, selbst wenn man die Barrani noch nicht monatelang kannte. Sie sahen sich alle so ähnlich, dass es für Menschen – oder einfache Menschen, wie die Barrani sie oft nannten – schwer war, sie auseinanderzuhalten. Aus diesen Verwechslungen war viel boshafter Spaß zu gewinnen – alles auf Kosten der Person, die den Fehler machte.
Sein Lächeln wurde etwas kühler, als sein Blick ihre Wange streifte. Dort, in dünnen blauen Linien, die man als Spinnfäden bezeichnen konnte, prangte das Zeichen von Lord Nightshade – der ausgestoßene Barranilord, der über die Kolonie regierte, in der Kaylin aufgewachsen war. Das Zeichen bedeutete den Barrani etwas, aber nichts Gutes.
Wenn sie ehrlich war, bedeutete es auch ihr etwas. Aber sie konnte nicht genau sagen, was, und sie war damit zufrieden, die Erinnerung ruhen zu lassen. Nicht, dass ihr eine großartige Wahl geblieben wäre. Lord Nightshade hatte nicht vor, das Zeichen zu
entfernen
, und jeder andere hätte es nur zusammen mit ihrem Kopf entfernen können. Den würde sie, laut Marcus, allerdings auch kaum vermissen, so wenig, wie sie ihn benutzte.
Einzeln oder zu zweit waren ungefähr ein Dutzend Barrani – na ja, vierzehn, wenn sie genau nachzählte –, die außerdem das Privileg hatten, sich Falken nennen zu dürfen, von Tain oder Teela zu ihr gebracht worden, um sich das Zeichen anzusehen.
In ein oder zwei Fällen war es verdammt gut, dass Teela dabei gewesen war, denn die Barrani hatten sich fast gar nicht zusammengerissen, nachdem der Schock abgeklungen war, aber jedwede Beherrschung war sowieso nur äußerlich gewesen.
Kaylin hatte sich daran gewöhnt.
Und die Barrani hatten sich ihrerseits ebenfalls mit dem beleidigenden Zeichen abgefunden. Deshalb gefiel es ihnen noch lange nicht.
Ihnen gefiel nicht, was es bedeutete.
Kaylin verstand, dass das Wort, was sie leise murmelten, etwas bedeutete, was sich grob als “Gemahlin” übersetzen ließ. Sehr grob. Und mit viel mehr Nachdruck.
Die Tatsache, dass es sowohl gegen das Gesetz der Barrani-Kaste als auch das kaiserliche Gesetz selbst verstieß, einen Menschen auf diese Art zu zeichnen, war sie auf genau die Verachtung gestoßen, die Kaylin seit jeher den Barrani entgegengebracht hatte.
“Koloniallord, erinnert ihr euch? Nightshade? Nicht gerade der
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