Kein Augenblick zu früh (German Edition)
1
Ich blickte in den Badspiegel. Das Haar: wirr; dunkle Ringe unter den Augen. Ich sah blass aus, ein wenig abgemagert. Alex stand hinter mir, mit nacktem Oberkörper und in Jeans, die Hände leicht auf meine Schultern gelegt. Der Bluterguss auf seiner Wange war verblasst, die Narbe, die sich über den Wangenknochen bis zum Auge zog, war kaum noch zu sehen. Auch er wirkte müde. Die letzten Wochen waren hart gewesen und hatten ihre Spuren an ihm hinterlassen.
»Fang endlich an!«, sagte ich.
Er fasste mein Haar wie zu einem Zopf zusammen, setzte die Schere am Nacken an und schnitt. Blonde Strähnen fielen auf die Fliesen, aber ich schaute nur auf Alex, der sich ganz auf die Arbeit konzentrierte. Allein seiner Gegenwart war es zu verdanken, dass ich nicht den Verstand verlor und Hals über Kopf nach Kalifornien zurückfuhr, um meine Mutter und Jack zu befreien. Seit acht Tagen kreuzten wir nun schon südlich der amerikanischen Grenze herum, versuchten die Einheit abzuschütteln und waren schließlich hier gelandet, in der drückend schwülen Hitze von Mexico City, in diesem Hotelzimmer.
Als Alex fertig war, beugte er sich herab und küsste mich auf den Nacken. Die Berührung schickte wohlige Schauder über meinen Rücken. Er lächelte meinem Spiegelbild zu.
»Du siehst wunderbar aus.«
Wunderbar? Mein Kopf fühlte sich jedenfalls leichter an. Die Augen wirkten plötzlich riesig. Ich hatte damit gerechnet, dass ich mit kurzen Haaren kindlicher aussehen würde, tatsächlich aber schien ich irgendwie älter. Das Gesicht kam mir härter vor, der Hals länger. Als hätte ich mich mit dem langen Haar vom letzten Rest der Kindheit verabschiedet. Alex folgte der Nackenlinie bis zum Haaransatz mit seinen Lippen, dann drehte er mich herum, nahm mein Gesicht zwischen beide Hände und küsste mich direkt auf den Mund.
Trotz meiner wirren Gefühle – einer unangenehmen Mischung aus Furcht, Hoffnung und Verzweiflung – reagierte ich unwillkürlich. Ich schlang die Arme um seine Schultern und drückte ihn eng an mich.
Seit der Nacht, als wir gegen die Einheit gekämpft hatten und Jack niedergeschossen worden war, fühlte ich mich völlig durcheinander. Als ob ich nur noch durch das Leben taumelte. Alex gab mir Halt – genau wie damals, vor vielen Jahren, als meine Mutter gestorben war. Aber sie war gar nicht tot, erinnerte ich mich, sie war ebenso am Leben wie Jack. Dass mein Bruder lebte, musste ich einfach glauben, um nicht an den schrecklichen Selbstvorwürfen zu verzweifeln, angesichts dessen, was hätte geschehen können.
Nein, sagte ich mir zum hundertsten Mal, sie lebten, alle beide. Wir mussten nur noch einen Weg finden, sie zu befreien.
Plötzlich verspannte sich Alex; sein Kopf fuhr herum, als hätte er ein Geräusch gehört.
»Bleib hier.« Er schob mich zur Seite und griff nach der Türklinke.
Im selben Augenblick hörte ich es auch: Reifen quietschten, Autotüren wurden zugeschlagen. Alex lief vorsichtig durch das Schlafzimmer und tastete dabei automatisch nach der Pistole, die im Bund seiner Jeans steckte. Ich blickte mich im Bad um: Es bot kein Versteck und nur wenige Gegenstände, die ich auf die Eindringlinge schleudern konnte. Also folgte ich ihm.
Alex stand am offenen Fenster und beobachtete die Straße, während er sich hastig ein T-Shirt über den Kopf zog. »Sie haben uns gefunden«, sagte er.
Mein Magen verkrampfte sich. Keine Frage, wer uns gefunden hatte.
»Wir müssen weg!« Er griff nach meiner Hand und zog mich zur Tür. Ich hatte noch gar nicht begriffen, wie mir geschah, und blieb wie erstarrt stehen. »Lila, mach schon!«, schrie er.
Die Einheit hatte uns aufgespürt. Wie zum Teufel war das möglich?
Während er sich unsere Reisetasche über die Schulter warf, zerrte Alex mich aus dem Zimmer. Wir sprinteten durch den Flur zum Notausgang am anderen Ende. Kurz davor befand sich eine Abstellkammer. Alex riss sie auf, warf die Tasche auf das oberste Regal und schlug die Tür wieder zu. In der Tasche waren unser gesamtes Geld, zwei Pistolen und unsere Kleider. Ich hätte ihn gern gefragt, warum er alles einfach hier zurückließ, aber dazu blieb keine Zeit – er stand schon am Notausgang.
Zuerst öffnete er die Tür nur einen schmalen Spalt. Die Fluchttreppe war aus Beton und bebte unter dem Gewicht von schweren Stiefeln. Die Männer mussten noch zwei Stockwerke tiefer sein, aber sie kamen schnell näher.
Alex fluchte leise. Dann holte er tief Luft, drückte die Tür weiter auf
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