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Kein Friede den Toten

Kein Friede den Toten

Titel: Kein Friede den Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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dem Gehweg das Gleichgewicht verloren? War das Eis schuld? Unzählige Male wirst du diesen Augenblick hinterher im Geist durchgehen, aber nie zu einer eindeutigen Antwort kommen.
    Irgendwie seid ihr beide gefallen.
    Deine Hände liegen noch um seinen Hals. Umklammern seine Kehle. Du lässt nicht los.
    Mit einem dumpfen Schlag geht ihr zu Boden. Stephen McGraths Hinterkopf kracht auf den Kantstein. Ein schreckliches Knacken ertönt, ein feuchtes, viel zu hohles Geräusch, wie du es noch nie zuvor gehört hast.
    Dieses Knacken markiert das Ende deines Lebens, so wie du es bisher kanntest.
    Du wirst es nie vergessen. Dieses fürchterliche Geräusch. Es wird dich nie wieder loslassen.
    Alles um dich herum erstarrt. Du blickst nach unten. Stephen McGraths Augen sind offen. Er blinzelt nicht. Aber du weißt es schon. Du weißt es, weil sein Körper plötzlich schlaff geworden ist. Du weißt es, weil du das schreckliche Knacken gehört hast.
    Die Menge zerstreut sich. Du rührst dich nicht. Du bewegst dich sehr lange nicht.
    Dann geht alles ganz schnell. Der Campus-Wachdienst kommt. Dann die Polizei. Du erzählst, was passiert ist. Deine Eltern beauftragen eine Spitzenanwältin aus New York City. Sie sagt, du sollst auf Notwehr plädieren. Das tust du.

    Und immer wieder hörst du dieses fürchterliche Geräusch.
    Der Staatsanwalt spottet. Meine Damen und Herren Geschworenen, sagt er, der Angeklagte ist zufällig ausgerutscht, als er die Hände um Stephen McGraths Kehle gelegt hatte. Erwartet er wirklich, dass wir ihm das glauben?
    Der Prozess läuft nicht besonders gut.
    Dich interessiert das alles nicht. Früher waren dir Zensuren und Einsatzzeiten in den College-Mannschaften wichtig. Erbärmliches Zeug. Freunde, Mädchen, die Hackordnung, Partys, Erfolg und so weiter. Das ist alles vorbei. Stattdessen ist da nur noch dieses schreckliche Knacken, mit dem der Schädel auf den Kantstein krachte.
    Beim Prozess hörst du deine Eltern weinen, aber da sitzen auch Sonya und Clark McGrath, die Eltern des Opfers und ihre Gesichter werden dich verfolgen. Sonya McGrath schaut dich den ganzen Prozess lang an. Sie fordert dich heraus. Du sollst ihr in die Augen sehen.
    Du kannst es nicht.
    Du versuchst, dir die Verkündigung der Entscheidung der Geschworenen anzuhören, aber die Geräusche in deinem Kopf sind zu laut. Sie hören nie auf und werden auch nicht leiser, selbst dann nicht, als der Richter dich streng ansieht und das Urteil spricht. Es sind Reporter im Gerichtssaal. Du wirst nicht in ein angenehmes Country-Club-Gefängnis für Weiße geschickt. Jetzt nicht. Nicht im Wahljahr.
    Deine Mutter fällt in Ohnmacht. Dein Vater versucht, die Fassung zu bewahren. Deine Schwester läuft aus dem Gerichtssaal. Dein Bruder Bernie steht wie angewurzelt da.
    Dir werden Handschellen angelegt, dann wirst du abgeführt. Deine Erziehung hat dich absolut nicht auf das vorbereitet, was dir jetzt bevorsteht. Die Geschichten über Vergewaltigungen im Knast kennst du natürlich aus dem Fernsehen. Das passiert dir nicht – keine sexuellen Übergriffe –, aber du wirst schon in
der ersten Woche zusammengeschlagen. Du machst den Fehler, die Täter zu verraten. Daraufhin wirst du noch zwei Mal verprügelt und verbringst drei Wochen auf der Krankenstation. Noch Jahre später hast du manchmal Blut im Urin, ein Andenken an einen Schlag in die Niere.
    Du lebst in ständiger Angst. Als du von der Krankenstation wieder zurück zu den normalen Insassen kommst, erkennst du, dass du nur überleben kannst, indem du einem bizarren Ableger der Aryan Nation beitrittst. Sie vertreten nicht so sehr die Vision eines rein arischen Amerikas, aus dem alle Farbigen hinausgeworfen werden. Im Großen und Ganzen wollen sie nur irgendwen hassen.
    Sechs Monate nach deiner Verurteilung stirbt dein Vater an einem Herzanfall. Du weißt, dass es deine Schuld ist. Du willst weinen, kannst es aber nicht.
    Du bleibst vier Jahre lang im Gefängnis. Vier Jahre – so lange, wie die meisten Studenten aufs College gehen. Du wirst demnächst vierundzwanzig Jahre alt. Die Leute sagen, du hättest dich verändert; du bist dir da aber nicht so sicher.
    Als du rauskommst, gehst du ganz behutsam. Als könnte der Boden unter deinen Füßen nachgeben. Als könnte die Welt um dich herum jederzeit einstürzen.
    Letztlich wirst du dein Leben lang so gehen.
    Dein Bruder Bernie holt dich am Tor ab. Bernie hat gerade geheiratet. Seine Frau Marsha ist schwanger. Sie bekommt bald ihr erstes Kind.

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