Kein Schatten ohne Licht
„Ich habe ihn schon seit Wochen nicht mehr gesehen.“
Yvonne sah so aus, als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie wütend oder lieber schadenfroh sein sollte. Nach einigen Momenten des Zögerns entschied sie sich für Letzteres. Wären ihre Ohren nicht im Weg gewesen, hätte sie es wohl geschafft, im Kreis zu grinsen. „Er hat Gregor angefleht, auf Außeneinsätze gehen zu dürfen. Sieht ganz so aus, als ertrage er die Gesellschaft unserer reizenden Jane nicht länger.“
„ Wenn es um gutaussehende Männer geht, ist Mama sogar noch anstrengender als Klara“, erwiderte Melica. „Wäre es nicht so schrecklich peinlich, würde ich wahrscheinlich sogar darüber lachen.“
„ Wundert mich nur, dass sie es gerade auf Tizian abgesehen hat. Jonathan würde doch viel besser zu ihr passen. Du weißt schon, dann könnten sie sich gegenseitig die Haare machen und so.“ Yvonne stockte kurz, bevor sie Melica einen fragenden Blick zuwarf. „Meinst du, wir sollten Tizian sagen, dass Jane das Antrum schon vor über zwei Wochen verlassen hat?“
Während Melica leicht den Kopf schüttelte, nahm Yvonnes Grinsen nahezu abartige Ausmaße an und sie drehte ihren Kopf zur Seite. Doch dann, mit einem Mal, fiel all die Vergnüglichkeit von ihrem Gesicht ab. Ihre Belustigung rann wie Sand von ihren Zügen, ihre Augen riss sie weit auf. „Was zur Hölle soll-“ Yvonne brach ab, starrte mit versteinerter Miene an Melica vorbei.
Diese folgte ihrem Blick neugierig.
Oh.
Glühende Lava floss in atemberaubender Geschwindigkeit durch ihre Venen, versengte sie von innen heraus. Melica wurde schwindelig.
„ Was auch immer das soll, Mel! Du bist nicht schuld!“, rief Yvonne eindringlich, doch Melica hörte sie nicht mehr. Sie war wie in Trance, als sie langsam die Fernbedienung vom Tisch hinter ihr nahm und die Lautstärke höher stelle.
„ Haben die Geiselnehmer erste Forderungen gestellt. Nach Angaben der Polizei verlangen sie einen Tauschhandel.“ Die sonore Stimme des Nachrichtensprechers war wie ein Schlag in Melicas Gesicht. Die Stimme und das Bild, das beinahe den gesamten Bildschirm einnahm und Melica milde vertraut vorkam.
Kunststück, schließlich hatte sie das Foto selbst geschossen. Es war ein typisches Bild von ihr, mit leuchtenden Augen und übertriebenem Schmollmund strahlte sie in die Kamera, die sie selbst weit über ihrem Kopf hielt. Ihre Naivität war fast greifbar. Und obwohl das Bild sie selbst zeigte, obwohl es nicht einmal viel älter als ein Jahr alt sein konnte, hatte Melica Schwierigkeiten, es mit ihr in Verbindung zu bringen. Es schien zu einem ganz anderen Leben zu gehören. Nicht zu ihrem eigenen.
„ Die Schattenkrieger fordern die Dämonin Melica Parker auf, sich freiwillig zu ergeben. Stellt sie sich, werden die Geiseln auf der Stelle freigelassen. Versteckt sie sich weiterhin, findet kein Unschuldiger den Weg zurück in sein Leben“, fuhr der Nachrichtenmann fort und lächelte übertrieben gewinnbringend in die Kamera. „Meine verehrten Damen und Herren – Sie sind nicht die Einzigen, die sich von dieser Nachricht verwirrt fühlen. Niemand weiß, was die Schattenkrieger damit meinen könnten. In diesen Sekunden setzen die besten Analytiker der Welt alles daran, die Botschaft zu entschlüsseln. Sie werden dahinterkommen, was genau die Schattenkrieger tatsächlich fordern. Die Entführer werden kaum erwarten, dass sich ein so junges und vor allem lebensfrohes Mädchen wie die eben erwähnte Melica Parker freiwillig ausliefert. Wir bitten Sie, trotz allem die Ruhe zu bewahren. Die Polizei hat alles im Griff.“
„ Die Polizei hat alles im Griff“, wiederholte Yvonne mit ätzender Stimme. „Was für ein Mist!“ Sekunden später war das Gesicht des Nachrichtensprechers vom Bildschirm verschwunden.
Sprachlos starrte Melica auf das schwere Lexikon, das halb aus dem zertrümmerten Fernseher herausragte. Dann schweifte ihr Blick weiter, glitt über unzählige Glasscherben hinweg, gewann an Höhe und kam schließlich direkt auf Yvonnes triumphierendem Gesicht zum Liegen.
„ Wenn man bedenkt, wie unglaublich schlecht ich eigentlich zielen kann, war das eine herausragende Leistung“, befand Yvonne mit einem zufriedenen Nicken.
Weil Melica nicht sonderlich auf ihre Äußerung reagierte – in Wahrheit stierte sie die Sarcone nur an wie eine psychopathische Irre – erklärte Yvonne schnell: „Ich wollte diesen Blödsinn einfach nicht länger hören. Nicht, dass du am Ende noch auf die
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