Kein Schatten ohne Licht
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Das Schicksal war schon ein interessantes Phänomen. Unverständlich, erbarmungslos und mindestens genauso stur wie Melica selbst, bahnte es sich seinen Weg durch die Leben, Träume und Gefühle eines jeden Wesens. Das Schicksal behandelte jeden gleich. Jeden – mit Ausnahme von Melica Parker. Denn dass das Schicksal sie nicht abgrundtief hasste, konnte ihr wirklich niemand erzählen.
Höchstwahrscheinlich, und da war sich Melica fast sicher, hatte es sich eine Zielscheibe mit ihrem Foto darauf in seinem Wohnzimmer aufgestellt und malträtierte sie nun mehr oder weniger regelmäßig mit sorgsam gespitzten Pfeilen. Oder aber das Schicksal praktizierte altmodisches Voodoo und rammte ihr jeden Tag genüsslich Nägel in den Körper. Zugegeben, Melica hatte nicht gerade das beste Bild vom Schicksal. Es hatte es aber auch nicht besser verdient.
Mit verkrampftem Gesicht und schmerzhaft geballten Fäusten kauerte Melica auf einem unbequemen Stuhl in der Bibliothek. Den Blick hielt sie eisern auf den zwergenhaften Bildschirm in der Ecke gerichtet. Noch immer konnte sie kaum glauben, dass Gregor tatsächlich auf ihr Drängen eingegangen war und einen Fernseher ins Antrum gebracht hatte. Zwar nur mit finster gerunzelter Stirn und einem mürrischen Zug auf den Lippen, aber immerhin – es glich einem Wunder.
Was Melica jedoch noch weniger glauben konnte, war, mit welch unverhohlener Dreistigkeit Diana zu Werke ging. Seit Melica hier saß, und das tat sie schon seit vielen, vielen Stunden, erreichten sekündlich neue Vermisstenfälle die Ohren der Bevölkerung. Vermisstenfälle, die alle auf ihr Konto gingen. Melica konnte gar nicht sagen, wie viele Bilder von wie vielen Opfern sie schon gesehen hatte, sie wusste nur, dass es viele waren. Zu viele.
„ Du steckst ja immer noch hier.“ Yvonne bemühte sich nicht einmal, den Vorwurf aus ihrer Stimme zu verbannen. Es wäre ihr ohnehin nicht gelungen.
„ Das wundert dich doch wohl nicht etwa wirklich?“, entgegnete Melica müde. Sie wandte der braunhaarigen Dämonin langsam das Gesicht zu, klebte sich ein falsches, schiefes Lächeln auf die Lippen. „Du hast übrigens das Beste verpasst.“
„ Das Beste?“
„ Inzwischen hat sich eine rassistische Gruppierung zu den Vorfällen bekannt.“
„ Rassistische Gruppierung?“
Schien, als wäre Yvonne durch einen gigantischen Papagei ersetzt worden. Unter normalen Umständen hätte Melica wohl auch nichts gegen Papageien einzuwenden gehabt. Sie war nicht so voreingenommen und gegen neue Freundschaften hatte sie sowieso nichts einzuwenden. Doch leider waren dies keine normalen Umstände. Und da der Papagei sie brutal aus ihrer geliebten Einsamkeit riss und ihr damit entsetzlich auf die Nerven fiel, rangierte er momentan auf Platz 3 ihrer „Persona Non Grata“ Liste.
Melica stieß ein gequältes Seufzen aus. „Die Nachrichten überschlagen sich. Die Welt steht Kopf. Nun weiß jeder, wie sich die Gruppe nennt, die schon Unzählige aus dem Leben gerissen hat. Großes Kino, Yvonne. Ehrlich wahr.“
„ Sie haben sich wirklich geoutet?“
„ Nein. Sie haben uns geoutet.“ Melicas Lächeln kehrte zurück, wurde fratzenartig und doch beinahe anerkennend. „Angeblich heißen sie die „Schattenkrieger“.“
Ein Lachen schlüpfte aus Yvonnes Mund, doch es war kein sonderlich fröhliches Lachen. Ganz im Gegenteil. „Diana wusste schon immer, wie sie sich am besten verkauft und in Szene setzt. Doch wenigstens wissen wir jetzt, dass die Vermissten wirklich auf ihr Konto gehen.“
„ Wir haben doch nie daran gezweifelt.“
Yvonne seufzte leise. Dann ließ sie sich neben Melica auf einen Stuhl sinken. Doch anstelle sich auf den Fernseher zu konzentrieren, richtete sie ihren Blick direkt auf Melica. Sagen tat sie nichts. Sie schaute einfach. Musternd. Prüfend. Jahrelang. Wochenlang. Tagelang. Stundenlang. Aber mindestens minutenlang. Das war doch ohnehin egal. Wichtig war nur, dass es unfassbar unheimlich war. Denn eigentlich gab es nur zwei Gründe, warum Yvonne nicht redete. Üblicherweise verschonte sie ihre Umwelt nur dann von ihren unglaublichen Redeattacken, wenn sie gerade eine Seele übernahm oder aber wenn sie schlief. Momentan tat sie nichts davon.
„ Habe ich etwas in meinem Gesicht, das da nicht hingehört?“, fragte Melica ruhig.
„ Du hast es noch immer nicht geschafft, deine Gefühle abzulegen.“
„ Ach!“ Melica verzog das Gesicht. „Nett, dass du mir davon erzählst. Und schon wieder habe ich
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