Kein Weg zurück
um fünf Uhr morgens zwei Polizisten vor der Haustür?
„ Wieso kommen Sie um diese Uhrzeit?“
„ Frau Bauer, bitte setzen Sie sich doch.“ Alle drei saßen auf der Couch, immer noch konnte sich Dorothea nicht vorstellen, was die Polizei von ihrer Tochter wollte. Nervös zupfte sie am Bund ihres Bademantels herum. Die Gesichter der beiden Polizisten wirkten grau, alt, farblos. Als hätten sie eine schwere Nacht hinter sich. Sie waren sicherlich noch jünger als sie selbst, doch der Beruf hatte sie schnell altern lassen.
„ Ihre Tochter hatte heute Nacht einen Autounfall … “ Dorothea fing an zu lachen – vor Erleichterung.
„ Das muss eine Verwechslung sein. Jasmin liegt in ihrem Zimmer. Sie ist heute Abend zuhause geblieben.“
„ Frau Bauer. Wir sind uns sicher, dass es sich um ihre Tochter handelt.“
„ Nein, das kann nicht sein. Sie liegt in ihrem Bett. Kommen Sie mit, ich zeige es Ih nen.“
Sie standen vor dem Kinderzimmer. Die Polizisten warfen sich unschlüssige Blicke zu – mitleidige Blicke. Dorothea klopfte sanft an die Türe ihrer Tochter.
„ Jasmin? Mach die Türe auf.“ Nichts.
„ Frau Bauer. Ich glaube nicht … “ Sie unterbrach den Polizisten und klopfte weiter an die verschlossene Türe.
„ Jasmin, mach sofort auf.“ Sie klopfte immer lauter. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie schrie.
„ Jasmin. Das ist kein Scherz. Mach sofort auf.“ Sie klopfte wie wild an die Türe. Die Tränen rannen ihr über das Gesicht.
„ Frau Bauer, bitte beruhigen Sie sich. Ihre Tochter ist nicht in ihrem Zimmer.“
„ Ich habe noch einen Ersatzschlüssel. Sie hat einen guten Schlaf, sie wird uns nicht hören.“ Dorothea öffnete die Türe. Leise, als wolle sie die schlafende Jasmin nicht wecken. Es brannte Licht. Eine Zeitung lag auf dem Bett. Klamotten lagen auf dem Boden. Das Fenster war geöffnet. Kalter Wind wehte Dorothea entgegen. Jasmin war nicht da. Dorothea fing an zu weinen, fiel zu Boden. Der Polizist fasste sie an der Schulter und sie sah ihm in die Augen. „Sie hat gesa gt, sie hasst mich.“
Heute sollte es soweit sein. Heute würde Dorothea zu ihrer Tochter komm en, und dann wären sie wieder vereint. Vierzig Jahre hatte sie dafür gebraucht, diesen endgültigen Schritt zu tun. Sie hätte es früher getan, wäre sie nicht so gläubig gewesen. Hätte sie nicht so viel Angst gehabt. Sie hatte ein Leben in Trauer geführt, nur noch schwarz getragen, keine Männer mehr getroffen. Hatte täglich gebetet. Gott würde es ihr verzeihen, wenn sie nun einen Schlussstrich zog. Die zittrige Hand fasste in die Tasche ihres Wintermantels und zog zwei Dosen mit Tabletten heraus. Dann legte sie sich neben das Grab ihrer Tochter und wachte nie wieder auf.
Gott,
gib mir die Gelassenheit,
Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut,
Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit,
das eine von dem andern zu unterscheiden. (Reinhold Niebuhr, 1943)
Di e Tätowiererin
Viele Menschen sprechen vom Sommer ihres Lebens, bei mir könnte man wohl sagen, dass ich den Winter meines Lebens in Paris verbrachte. Fünf Monate, von November bis März, prägten mein Leben wie nie etwas anderes zuvor. Ich war 19 Jahre alt und noch grün hinter den Ohren. Meine Eltern hatten ein gutes mittelständisches Unternehmen in Bayern und ich sollte in die Fußstapfen meines Vaters treten. Ich stellte mir allerdings etwas anderes für mein Leben vor: Ich wollte reisen, die Welt erkunden und Kunst studieren. Das kam für meine Familie allerdings nicht in Frage. Meine Begabung für Musik, Kunst und Literatur bemerkten sie zwar sehr früh, doch meine Zukunft sahen sie in einem sicheren Beruf wie den meines Vaters, der Werkzeugmechaniker war. Er hatte einiges geschafft. Er begann als einfacher Arbeiter und kämpfte sich durch, bis er eine eigene kleine Firma hatte. Er stellte Werkzeug für alle großen Firmen in der Umgebung her und hatte mehrere Mitarbeiter. Ich sollte nun, als einziger Sohn, das Ganze fortführen, doch mich lockte das Leben. Das Einzige, was mir von der Zeit damals geblieben ist, ist mein Tattoo auf der linken Schulter. Ich hatte es mir nicht weg machen lassen, auch nicht, als meine spätere Frau mich mehrfach dazu gedrängt hatte. Jetzt ist Doris, meine Frau, seit fünf Jahren tot und ich lebe mit meinem Sohn Dominik zusammen. Heute war sein 18. Geburtstag und ich hatte ihm vor langer Zeit versprochen, dass ich ihm zu diesem Geburtstag endlich erzählen würde,
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