Kellerwelt
Sturmgewehr in der Hand? Mit genug Schmerzkillern im
Rucksack, um eine ganze Siedlung für einige Zeit bei Laune zu halten? Oder würde
sich dieser Ausgang als eine weitere Gemeinheit des Kellers entpuppen?
Er musste an die Worte des
Chefs denken. An die Leute, die glaubten, sie seien bereits gestorben und
lebten in einer Art Vorhölle. Was wäre, wenn diese Leute Recht hatten? Würde
sein Zwischenleben dann enden? Würde er dann endgültig sterben? Oder würde er
eine Art der Erlösung erfahren, die er sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht
vorstellen konnte?
Diese Gedanken und
Befürchtungen ließen ihn zögern. Doch da waren auch noch andere Überlegungen.
Gerade in seiner Anfangszeit hatten sie ihn permanent begleitet. Er hatte sich
geschworen, den Ausgang zu finden und dem Geheimnis des Kellers auf die Spur zu
kommen. Er hatte sich geschworen, die Verantwortlichen zu finden und ihrer
Strafe zuzuführen - auf welche Weise auch immer. Und nun hatte er die
Gelegenheit, dies zu tun. Mehr noch: Ihm bot sich die Gelegenheit, ein für alle
Mal mit dem Keller aufzuräumen und all die armen Teufel zu befreien, die hier
drin vor sich hin vegetieren mussten. Die Siedler, die Knochenkauer - er konnte
allen den Weg zum Ausgang zeigen.
So stand er da und haderte
mit seinem Schicksal.
Aber nur kurz.
Dann traf er eine
Entscheidung. Und als er sich im nächsten Augenblick leicht und befreit fühlte,
wusste er, er hatte die richtige Entscheidung getroffen.
Wozu sollte er in einer Welt
leben, die er nicht kannte? Weswegen sollte er weiter mit seiner Identität
hadern? Und weswegen sollte er sich auf Gefahren einlassen, von denen er in
diesem Augenblick noch nicht einmal etwas ahnen konnte?
Nein, das alles brauchte er
nicht. Ganz gewiss nicht!
Deswegen schloss er die Tür
wieder.
Der Lichtstrahl von draußen
erlosch und ließ ihn im vertrauten Zwielicht des Kellers zurück. Irgendwo
tropfte Wasser von der Decke und landete in einer Pfütze am Boden.
Er grinste in die Dunkelheit
hinein und wandte sich wieder der Treppe zu. Er würde sich ganz sicher nicht
auf das Abenteuer einlassen, den Keller zu verlassen. Hier kannte er sich aus.
Hier wusste er, wer er war. Sicher, er hatte keinen Namen und keine große
Vergangenheit, doch seine Lebensgeschichte wuchs mit jedem Schritt, den er hier
drin zurücklegte und mit jeder Aufgabe, die er hier drin erfüllte. Wozu sollte
er sich also der fremden Welt, die draußen auf ihn wartete, stellen? Weswegen
sollte er sich dort in eine Identität einfinden, die ihm vielleicht überhaupt
nicht gefiel? Er war ein Mann in Schwarz - und er gehörte in den Keller. So
einfach war das.
Wieder im Keller angekommen,
wanderte er noch ein Stück durch die Korridore, bis er eine Zone erreichte, in
der er einige Zeit lang keine einzige Tür passierte. Als er dann schließlich
doch noch eine Tür entdeckte, stieß er sie auf und ging in den Raum dahinter.
Es handelte sich um einen kleinen Raum ohne Trümmer und ohne Einrichtung. Eine
verschmierte Arbeitsleuchte an der Decke verteilte Dämmerlicht und Wasser
tropfte in eine Pfütze auf dem Boden. Er nahm seinen Rucksack ab und lehnte
sein Gewehr gegen eine Wand.
Er schob den linken Ärmel
seiner Jacke nach oben, bis er seine Armbeuge freigelegt hatte. Dann setzte er
sich auf den Boden, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, und spannte seinen
Arm an, bis die Adern deutlich hervortraten. Er atmete noch einmal tief durch.
„Der Mann in Schwarz braucht einen neuen Job. Also, s techt nicht daneben."
Schlafen.
Er schloss die Augen.
Neustart!
E N
D E
Über den Autor:
Niels Peter Henning erblickte 1967 das Licht des
Kreißsaals. Er wuchs in Bad Camberg auf und lebte dort bis zum Jahr 2011. Dann
zogen ihn seine Lebensgefährtin sowie eine neue Arbeitsstelle nach Gießen.
Beruflich hat der gelernte Bürokaufmann in seinem Leben bereits einige
Stationen vorzuweisen: Er reparierte Kassen in einem Warenhaus, verkaufte
Büroartikel und Computer, programmierte Software, briet Bratwürste und
Schnitzel, betreute die Kunden eines Autoherstellers und managt nun ein
Sekretariat bei der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Dabei verfasst er
neben seinem Brotberuf regelmäßig Kurzgeschichten und Romane.
Drei Dinge blieben ihm während seiner bisherigen Laufbahn
treu: Seine Vorliebe für Science-Fiction und Horror, seine Querdenkerei sowie sein oft unkonventioneller, oft schräger und meistens rabenschwarzer
Humor. Diese Dinge ziehen sich wie
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