1314 - Im Bann der schönen Nymphe
Aber Jenny liebte ihn.
Es war ihr Reich. Es war eine tolle Gegend, auch wenn das Unterholz oft verfilzt und undurchdringlich erschien. Selbst im Winter, wenn die Bäume ihr Laub verloren hatten, war der Wald noch immer recht dicht. Ein großer Teil des Sonnenlichts wurde gefiltert, sodass unter den Bäumen stets ein grünliches Zwielicht herrschte.
Manchmal kam es Jenny vor, als liefe sie durch nachgiebiges Glas, in dem eine besondere Atmosphäre herrschte, die nicht alle Menschen erlebten.
Jenny schon.
Für sie stand fest, dass der Wald Geheimnisse enthielt, die nur wenige spürten und vielleicht einigen Auserwählten bekannt waren. Jenny gehörte noch nicht dazu. Allerdings hoffte sie, in diese Riege aufsteigen zu können. Das wäre super.
Gesehen hatte sie so gut wie nichts. Dafür gespürt. Und auch gehört. Hin und wieder hatte sie die wispernden Stimmen vernommen. Geheimnisvolles Raunen, auch Rascheln, wobei sie fest davon überzeugt war, dass es sich nicht um die Bewegungen der Blätter handelte, die vom Wind gestreichelt wurden.
Sie hatte geschaut. Sich versteckt, um etwas zu entdecken. Ob es ihr gelungen war, wusste sie nicht, aber da waren schon seltsame Schatten gewesen, die sich gezeigt hatten und an ihr vorbeigehuscht waren. Schnell und leicht wie Federn.
Täuschung? Leben? Vielleicht ein Leben, das aus einer anderen Welt kam? Möglich war alles, denn Jenny wusste, dass es nicht nur die Welt gab, die sie mit ihren eigenen Augen sah. Dahinter hielt sich noch etwas versteckt, und sie war begierig zu erfahren, um was es sich handelte.
Zum Teil gehörte der Wald noch ihren Eltern. Das große Grundstück endete irgendwo in der Mitte. Die genaue Grenze war Jenny nicht bekannt. Das störte sie auch nicht, denn sie interessierte mehr das eigentliche Ziel.
Für sie war der Teich der Mittelpunkt des Waldes. Ein kleines Gewässer, überschaubar, wenn man erst an es herangekommen war, denn sein Ufer war dicht bewachsen.
Nur auf Fotos in fernen Ländern hatte Jenny bisher so hohes Gras gesehen. Es wucherte auch hier. Es umgab den Wald wie eine weiche Mauer. Es klammerte sich am Gestrüpp fest, es bildete einen Riegel. Hohe Farne breiteten sich aus. Strauchwerk, das im Sommer schwer mit Brombeeren behangen war, erschwerte den Weg ans Wasser ebenfalls. Hier kamen viele Hindernisse zusammen, und deshalb war der Teich auch bei den meisten Menschen in Vergessenheit geraten. Sie kamen nicht an ihn heran. Sie wollten sich auch nicht die Mühe machen. Wen interessierte schon der Wald? Sollte er doch zuwachsen.
Jenny Mason wurde im nächsten Monat zwölf. Sie fühlte sich nicht mehr als Kind. Ich bin schon leicht erwachsen, hatte sie zu den anderen Menschen gesagt, und das nicht nur mit einem fröhlichen Unterton in der Stimme. Manchmal vermisste sie das Leben, das die anderen Kinder hatten. Sie war zu sehr auf einer Insel groß geworden. Beschützt und behütet. Fast schon bewacht. Es war ihr viel entgangen, und sie hatte sich eine eigene Welt schaffen müssen, was ihr auch gelungen war.
Kleine Fluchten in die… ja, wohin eigentlich?
So genau hatte sie es nicht herausgefunden. Aber sie würde es noch schaffen, das stand fest. In die Welt dahinter, die auch Alice kennen gelernt hatte. Alice im Wunderland, die herrliche Geschichte von Lewis Carroll. Wunderbar erzählt, der Fantasie freien Lauf gelassen, aber ob es wirklich nur die reine Fantasie war, wusste Jenny nicht. Gern hätte sie Alice geheißen, um hinter die Kulissen schauen zu können, denn da war etwas, davon ging sie aus.
Irgendwann würde sie es schon herausfinden. Und es würde nicht mehr lange dauern. Vielleicht schon am heutigen Tag. Das hatte sie einfach im Gefühl. Als wäre ihr eine Botschaft vermittelt worden. Es war wunderbar.
Leicht und beschwingt fühlte sie sich. Die übliche Düsternis des Waldes bemerkte sie nicht. Der Weg zum Teich war sogar gut zu sehen. Dafür hatte sie gesorgt. Jenny hatte so etwas wie einen Wildwechsel oder sehr schmalen Pfad durch den Wald geschlagen. Es war ihre Autobahn bis zum Ziel.
Niemand außer ihr kannte die Strecke. Sie würde keinem davon erzählen. Nein, nein, das sollte und würde ihr Geheimnis bleiben.
Auch Amelie, das deutsche Au-pair-Mädchen würde nichts davon erfahren. Sie würde sowieso sauer sein, wenn sie Jenny in dem großen Haus nicht fand. Aber sie würde sich nicht trauen, in den Wald zu laufen, denn davor fürchtete sie sich.
Die Bäume wuchsen enger zusammen. Moos hielt ihre Stämme
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