Ketten der Liebe
Kindheitserinnerungen in ihr wachrief.
»Früher überredete er einen der Fischer, ihn zur Insel zu rudern.« Miss Victorine wirkte ein wenig entrückt, als sie den Marquess mit ihren blauen Augen ansah. »Dann besuchte er mich«, fügte sie im Flüsterton hinzu, »und ich kochte uns Tee und servierte Sahnetörtchen, die er für die besten der Welt hielt.«
»Kein Wunder, denn das stimmt ja auch.« Amy musste sich anstrengen, als sie die Decken unter Lord Northcliff hervorzog, um ihn damit zuzudecken.
»Ist er nicht ein ausgesprochen gut aussehender Mann?«, fragte Miss Victorine in leicht wehmütigem Ton.
»Wie können Sie so etwas sagen?« Amy würdigte seine ansprechenden Züge keines Blickes. »Er hat uns unsere Lebensgrundlage geraubt.«
»Meine Liebe, der Diebstahl hat nichts damit zu tun, dass er ein hübscher Bursche war, der zu einem gut aussehenden Lord herangewachsen ist.« Miss Victorine ließ ihre Hände mit den Spitzenhandschuhen durch die Luft flattern, ehe sie die Hände anmutig an ihre Taille legte. »Nur weil ich zu alt bin, um auf die Leiter zu klettern, heißt das noch lange nicht, dass mir beim Anblick der Pfirsiche nicht das Wasser im Munde zusammenläuft.«
Amy verschlug es den Atem. Miss Victorine war spröde und zimperlich wie eine alte Jungfer, und doch blitzte ab und an in ihren Äußerungen eine für ihr Alter ungewöhnliche Unverfrorenheit auf. Oft war sie streng mit Amy, wenn Amy wieder einmal zu offen ihre Meinung sagte. Dann tadelte sie ihre junge Mitbewohnerin für unziemliche Bemerkungen. Dennoch hatte sie eine lange Zeit allein gelebt und nahm daher das Recht für sich in Anspruch, immer das zu sagen, was ihr durch den Kopf ging. Nicht zuletzt wegen dieser Freimütigkeit hatte Amy die alte Dame ins Herz geschlossen.
Versonnen fügte Miss Victorine hinzu: »Sein Vater war alles andere als gut aussehend. Es ist erstaunlich, dass der junge Jermyn heute wie ein liebenswerter Engel aussieht.«
Amy betrachtete den bewusstlosen Mann, der auf der Bettstatt lag.
Wie ein liebenswerter Engel? Was um Himmels willen verleitete Miss Victorine dazu, den Marquess als liebenswerten Engel zu bezeichnen? Weder das eine noch das andere traf auf ihn zu; für Amy verkörperte er vielmehr den verzogenen Jungen, der sich das nahm, was er wollte, und nur seine eigenen Bedürfnisse im Sinn hatte.
Dennoch ... auch Amy musste zugeben, dass man sich irgendwie zu diesem Mann hingezogen fühlen konnte. Seine Haut hatte eine auffallende Bräune - von der Jagd, wie sie vermutete, oder von irgendeiner anderen Freizeitbeschäftigung der englischen Aristokratie. Er hatte eine sehr schöne Nase, kräftig und wohlgeformt. Seine Lippen wirkten groß und weich, aber das mochte auch daran liegen, dass er den Mund leicht geöffnet hatte und leise, schnarchende Laute von sich gab.
Miss Victorine kicherte. »Hört sich so an, als wäre er unversehrt.«
»Ja, nicht wahr?« Zum ersten Mal, seitdem Lord Northcliff in ihr Leben getreten war, fragte Amy sich, wer er eigentlich war und warum er das getan hatte, was sie ihm nun vorwarfen. »Hat ihm denn niemand moralisches Denken und Verantwortungsbewusstsein beigebracht?«
»Doch, sein Vater! Das war ein guter Mann. Ein trefflicher Lord.« Müde sank Miss Victorine in den Schaukelstuhl und zog Coal auf ihren Schoß. Der große Kater rollte sich ein, doch seine linke Vorderpfote hing noch über die Stuhllehne. »Er war ausgesprochen stolz auf das Familienerbe und brachte auch seinem Sohn bei, stolz zu sein, und vielleicht hatte er recht. Denn immerhin gehören die Edmondsons zu den ältesten Geschlechtern Englands. Der Urahn der Edmondsons war ein sächsischer Führer, der sich gegen Wilhelm den Eroberer auflehnte und seinen Anspruch auf Summerwind geltend machte. Die offizielle Legende besagt, Wilhelm sei so sehr von dieser Tapferkeit beeindruckt gewesen, dass er ihm die Insel überließ.«
Amy ahnte, dass es da noch mehr zu erfahren gab, und fragte: »Und wie lautet die inoffizielle Legende?«
»Nun, darin heißt es, die Gemahlin des Sachsenführers habe Wilhelm im Bett besänftigt und ihrem Mann die Insel gesichert.«
Amy musste laut lachen.
»Ich weiß nicht, Amy.« Der Stuhl knarrte, als Miss Victorine ihn in leicht schaukelnde Bewegungen versetzte. Besorgnis grub sich in ihr rundliches Gesicht. »Glauben Sie, dass wir das Richtige getan haben?«
Amy setzte sich auf Schulterhöhe des Marquess auf die Matratze, nahm Miss Victorines Hand und drückte sie fest.
Weitere Kostenlose Bücher