Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Die Strahlung des Urans wird eindeutig nicht vom Sonnenlicht angeregt. Sie hat nichts mit dem Phänomen der Lumineszenz zu tun. Selbst monatelang im Dunkeln aufbewahrte Uransalze geben unablässig durchdringende Strahlung ab.
Diese wahrhaft bedeutsame Eigenschaft der sogenannten «Becquerelstrahlen» wird von der Pariser Akademie der Wissenschaften am 2. März 1896 veröffentlicht. Erst vier Monate sind seit der Entdeckung der Röntgenstrahlen vergangen, und schon hat sich eine zweite unbekannte Strahlenart dem Spektrum der elektromagnetischen Strahlung hinzugesellt. Zunächst aber gehen Becquerels neue Erkenntnisse im Lärm der globalen Begeisterung für die Röntgenstrahlen sang- und klanglos unter. Die Physiker sind viel zu sehr mit der allmählichen Verbesserung des Ablichtungsverfahrens nach Röntgen beschäftigt, um die Nachrichten aus Paris ernst zu nehmen oder gar die Versuche Becquerels zu wiederholen. Wie im Rausch fotografieren sie die «Totenköpfe» und Handknochen ihrer Kinder und Ehefrauen, ohne sich über die enormen Expositionszeiten Gedanken zu machen, oder sie arbeiten bereits gemeinsam mit Medizinern an Strahlentherapiekonzepten.
Die Uranstrahlen mögen zwar durch Metallfolien dringen und einen leidlich erkennbaren Fotoeffekt auslösen, aber das ändert offenbar nicht die vorgefassten Meinungen in den Köpfen der Kollegen. Die wollen aus der Arbeit Becquerels nicht die Konsequenz ziehen, es mit einer neuen Eigenschaft der Materie zu tun zu haben. Sie sehen lediglich eine schwache Variante der Röntgenstrahlen am Werk. Die Becquerelstrahlen benötigen bis zu 24 Stunden, um einen brauchbaren Abdruck auf der Fotoemulsion zu hinterlassen. Sie können nicht annähernd die spektakulären Bilder liefern, die Röntgenstrahlen bei ihrer Passage durch Materie erzeugen. Was ist schon der schwach ausgeprägte Schatten eines Uranklumpens gegen den Blick durch den Lauf von Wilhelm Röntgens Jagdwaffe auf die glänzenden Gewehrkugeln? Mit Röntgenstrahlen lassen sich die in Schienbeinen und Schulterblättern von Kriegsveteranen stecken gebliebenen Patronen, gebrochene Arm- und Beinknochen, verschluckte und nun anscheinend frei im Beckenraum schwebende Münzen deutlich erkennen. Amerikanische X-Ray-Enthusiasten können Radiographien einer Niere für einen halben Dollar kaufen – mit Nierensteinen: 75 Cent [Gla: 232].
Die wenigen Kollegen, die sich dann doch mit den Becquerel’schen Thesen auseinandersetzen, melden Vorbehalte an. Viel zu phantastisch klinge die Behauptung, ein unbedeutender Porzellanfarbenzusatz habe ohne Einwirkung von Licht oder Elektrizität ähnlich durchdringende Eigenschaften wie die X-Strahlen. Und die wahnwitzige Vorstellung, das Uran könne sich gar «spontan», also aufgrund eigener Strahlen, auf der Fotoplatte abgebildet haben, passt Ende des 19. Jahrhunderts so ganz und gar nicht ins physikalische Weltbild. Seriöse Wissenschaft muss schon den Umweg über birnenförmige, teilevakuierte und gasgefüllte Glasröhren, Starkstrom und Leuchtschirme gehen, wie Röntgen es vorgemacht hat.
Die Wolfenbütteler Gymnasiallehrer Julius Elster und Hans Geitel gehören zu den wenigen Forschern, die bereits im April 1896 Becquerels Versuche wiederholt, seine Ergebnisse in allen Punkten bestätigt und dem Skeptiker Wilhelm Röntgen ein Protokoll ihrer Arbeit geschickt haben. Der zeigt sich zwar beeindruckt von der zuverlässigen Beobachtungsgabe des norddeutschen Forschergespanns. Aber in seinem Antwortbrief vom 23. Februar 1897, genau ein Jahr nach Becquerels erster Veröffentlichung, schreibt er: «… ich muss nämlich gestehen, dass ich nicht recht daran glaubte …» Und an anderer Stelle kommt er zu dem Schluss: «Freilich will es mir nicht so recht in den Kopf …» [Fri 1 :80]. Zu diesem Zeitpunkt gibt es bereits mehr als 1000 Artikel und 50 Bücher über die X-Strahlen. Angesichts dieser Papierlawine nimmt kaum noch jemand Notiz von Becquerels Veröffentlichung. Mit Ausnahme einer aus Polen stammenden, 30 Jahre alten Chemikerin. Sie ist auf der Suche nach einem Dissertationsthema und hat die kaum beachteten Aufsätze gelesen, die Becquerel bis Mitte 1897 über die Uranstrahlung veröffentlicht hat. Mehr Literatur scheint es zu diesem Thema nicht zu geben, das sie ungemein spannend findet. Aber gerade dieser Umstand spornt sie an, denn so bleibt ihr genügend Raum für selbständige Forschungen. Und deshalb beschließt sie, ihre Dissertation über die Uranstrahlen zu
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