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Segel der Zeit

Segel der Zeit

Titel: Segel der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schroeder
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Prolog
    Â»Eines kann ich garantieren«, erklärte Venera Fanning. »Das wird eine Gefangenenbefreiung, wie es sie noch nie gegeben hat.«
    Der fassförmige Schlepper war so alt, dass das Moos ganze Kontinente über seinen Rumpf gelegt hatte und aus allen Fugen Grasbüschel sprießten wie die Haare aus dem Kinn eines alten Mannes. Doch als die kleine Besatzung die Triebwerke testete, entkräftete deren sattes Dröhnen jeden Verdacht, das Schiff sei den Anforderungen womöglich nicht gewachsen. Der Lärm des Probelaufs war tatsächlich so markerschütternd, dass er Venera und ihr kleines Gefolge vom Trockendockgerüst vertrieb. Sie wandte sich ab und blinzelte an Slipstreams Sonne vorbei. Die Stadt Rush nahm den halben Himmel ein, zwischen den Wolkenfetzen drehten sich majestätisch ihre bunt beflaggten Habitatzylinder. Es war Mittag, überall wimmelte es von Luftschiffen und geflügelten Menschen, und da und dort tummelten sich Delfine.
    Eine Gestalt hatte sich aus dem geordneten Strom fliegender Menschen gelöst und kam auf sie zu. Venera erkannte ein Mitglied ihres persönlichen Spionagenetzes. Der unscheinbare junge Mann trug die Lederkluft eines Fliegers. Seine Füße in den zehenfreien Stiefeln
steckten in Tretbügeln, mit denen er die mechanischen Flügel auf seinem Rücken bewegte. Vor ihr hielt er an und salutierte. Sie bewunderte den glänzenden Schweißfilm auf seinen Schultern. »Hier sind die neuesten Fotos.« Er reichte ihr einen dicken Umschlag; Venera nahm ihn und riss ihn auf. Der Mann war sofort vergessen.
    Beim Betrachten der Bilder wanderten ihre Finger wie von selbst zu der Narbe an ihrem Kinn: Es waren Aufnahmen von den Flächen und Kanten einer riesigen Haftanstalt, die isoliert zwischen den Wolken schwebte. Es handelte sich nicht um ein einzelnes Gebäude, vielmehr waren über Jahrzehnte sechs oder sieben Trakte miteinander verzurrt worden, und der massige Komplex hing wie ein Felsklotz halb verhüllt in seiner eigenen Nebelbank. Die Blöcke, Sphären und Dreiecke des »Neuen Falkengefängnisses« waren in verschiedenen Farben gehalten und gehörten unterschiedlichen architektonischen Stilrichtungen an. Man hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes zusammengewürfelt und mit plumpen Holzbrücken, Ketten und Seilen aufs Primitivste zu einer monströsen Krebswucherung verbunden. Die durchweg vergitterten Fenster waren das einzige gemeinsame Element.
    Da keine Schwerkraft daran zerrte, war der Komplex halbwegs stabil; Stürme waren hier am Rand der Zivilisation selten, und es gab auch keine Hindernisse, mit denen er auf seiner endlosen Drift hätte zusammenstoßen können. Das Neue Gefängnis war ein Stiefkind der Zivilisation, ein vergessenes Staubkorn am Rand jener riesigen Wolke aus Arbeiterwohnheimen, Kollektivfarmen und durchgeplanten Städten, die sich Falkenformation
nannte. Für die Fracht, die hier abgeladen wurde, war es in den meisten Fällen eine Reise ohne Wiederkehr.
    Venera bereitete eine außerplanmäßige Abholung vor.
    Sie holte tief Luft, wandte sich dem Kurier zu und lächelte. »Erkundigen Sie sich, ob alles bereit ist«, befahl sie. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
    Â»Garth Diamandis hat mir auch das hier mitgegeben. « Er reichte ihr einen zweiten Umschlag. Er enthielt Berichte, aber denen gönnte sie nur einen kurzen Blick.
    Â»Damit befasse ich mich, wenn wir zurück sind. Zuerst will ich das hier sehen.«
    In diesem Moment husteten die Triebwerke des Schleppers und schalteten sich ab. Das Schiff begann zu qualmen. Venera drehte sich in der Luft, eine graziöse Bewegung, vervollkommnet in lebenslanger Übung im Wechsel zwischen Schwerelosigkeit und Schwerkraft, und warf der Besatzung, die aus der Luke quoll, einen wütenden Blick zu. »Was habt ihr denn jetzt angestellt ?«
    Â»Es wird schon klappen!« Der Chefingenieur kam händeringend um die Schiffswölbung herumgeflogen. Wie jeder vernünftige Mensch fürchtete er Veneras Zorn. Sie entschloss sich, ein gewisses Maß an Selbstbeherrschung an den Tag zu legen, und verbarg ihre Enttäuschung hinter einem Achselzucken. »In zwei Stunden bin ich zurück«, sagte sie. »Sorgen Sie dafür, dass die Kiste bis dahin flugbereit ist.«
    Â 
    Â»Das sind die Mitspieler.« Garth Diamandis legte die Fotos wie Spielkarten auf dem Tisch aus. Sie saßen

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