Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Kapitel 1
RADIOAKTIVITÄT
Das Fauchen im Windofen des Labors klingt fast bedrohlich. Der mächtige Luftzug facht das Feuer an, damit es genügend Hitze entwickelt, um Metalle zu schmelzen. Mit der Wärme verfliegt auch allmählich der modrige Dunst aus den dunklen Steinen, die in der Kiste vor dem Ofen liegen. Sie schwitzen die Feuchtigkeit des Bergwerks aus, den Schwamm der verfaulten Schalhölzer. Selbst die saure Luft des aufgegebenen Silberstollens ist – so scheint’s – in die Ritzen der Mineralien gekrochen und wird jetzt von der behaglichen Wärme im Raum wieder hervorgelockt. Aber bald schon wird sich der Muff ohnehin restlos verflüchtigt haben wie die rasch verblassende Erinnerung an einen Dauerregen im Herbst. Denn gegen die hier aufgefahrene Batterie ätzender Flüssigkeiten in Flaschen, Glasröhrchen und Ampullen kann nichts auf der Welt anstinken.
Der Berliner Apotheker Martin Heinrich Klaproth hat seinen kompletten Bestand bewährter Substanzen und Mixturen in Position gebracht, um den neuen Gesteinsproben aus dem Erzgebirge auf den Leib zu rücken. Mit Feuer und Säuren will er sie spalten und zerbröckeln, sie mit Salzen anlösen und mit Wasser erweichen. Während er leuchtend rote Klumpen Blutlaugensalz im Mörser zerknirscht, überwacht er die Färbung der frisch angesetzten Galläpfeltinktur. Sie wird aus den grob gemahlenen, apfelförmigen Kokons von Gallwespenlarven gewonnen, deren Mütter die Eier in Eichenblätter hineinbohren. Ihre Gerbsäure wird so manche Unreinheit im Erz fortspülen. Mit der schwarzen Tinte, die aus demselben Sud produziert wird, schreiben im fernen Paris der leidenschaftliche Demokrat Lafayette und der radikale Robespierre gerade ihre Entwürfe zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, in der sie so unerhörte Forderungen wie gleiches Wahlrecht für alle Männer und gar die Abschaffung der Monarchie stellen.
In diesen revolutionären Sommermonaten des Jahres 1789 herrscht auch in Klaproths Bärenapotheke im Schatten der wuchtigen Nikolaikirche an der Spandauer Straße, Ecke Probststraße eine ziemlich brenzlige Atmosphäre. In respektvollem Abstand zu den Schmelz- und Porzellanöfen bläst der Experimentator durch das Lötrohr fortwährend so viel Luft in eine offene Flamme, wie seine Lungen eben hergeben. Er hat den Docht einer Kerze in zwei Teile geschnitten und hält nun sein Blasrohr mitten in die Gabelung hinein. So kann er die Flamme modulieren, sie lang und spitzig blasen, bis sie genau die haselnussgroße Erzprobe umzüngelt, die auf einer aus Birkenholz hergestellten, knisterfreien Holzkohle liegt. Hier, im beengten Labor, können unkontrollierter Funkenflug oder winzige Körner aufspritzenden Metalls in Reichweite leicht entzündlicher Chemikalien und Kohlen selbst dem umsichtigsten Praktiker schon mal zum Verhängnis werden. Aber Martin Heinrich Klaproth ist mit riskanten Situationen beim Ablauf chemischer Prozesse vertraut. Als Mitglied der Loge «Zur Eintracht» ist er sogar im «Handbuch der Freimaurerei» von 1787 lobend erwähnt worden. Bei einem schlampig vorbereiteten alchemistischen Großexperiment bewahrte er seine Logenbrüder vor einer Explosionskatastrophe.
Mit der Geheimniskrämerei der Alchemistenfraktion will er nichts zu tun haben. Er distanziert sich klar vom mystischen Brimborium der Adepten, die noch immer auf der Suche nach dem Stein der Weisen sind, mit dem sie unedle Metalle in Gold verwandeln wollen. Als vorbildlicher Verfechter der wissenschaftlich begründeten Chemie lässt Klaproth nur gelten, was er in seinen Tiegeln und Retorten sehen, riechen und wiegen kann. Manchem Hersteller von Wunderarznei weist er betrügerische Absichten nach. So identifiziert er das beliebte «wunderthätige Luftsalz» als simples, zusatzfreies Glaubersalz, und das zu Wucherpreisen verkaufte «Pneumalkali» des Begründers der Homöopathie Samuel Hahnemann entlarvt er als gewöhnliches Borax [Dan:60].
Der Mineralkörper, den der Apotheker und Chemiker Klaproth in seine Bestandteile zergliedern will, wird von den Bergleuten des Erzgebirges Pechblende genannt. Sie schimmert gräulich bis tiefschwarz und erinnert ein wenig an den fetten Glanz von Pech. Die schweren Klumpen sind spröde und zerbrechen in muschel- und nierenförmige Stücke. Wegen ihres hohen Gewichts glaubten zu Beginn des 17. Jahrhunderts die ersten Silberschürfer in den niedrigen Stollen des böhmischen St. Joachimsthal noch an einen massiven Metallgehalt des Gesteins. Aber
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