Kielwasser
geflochtenen Bordüre umrandet. Erinnerungen an Weinproben bei den Schells erwachten in Jung. Auf wackeligen Holzbohlen waren sie im Haus der Großmutter in den felsigen Untergrund hinabgestiegen. Die Sommerhitze draußen, die feuchte Kühle im Keller und der Geruch nach Hefepilzen und Wein waren in seinem Gedächtnis unauslöschlich eingegraben. An das Aroma grober, mit Majoran angemachter Leberwurst, an das selbst gebackene Brot und an die herbe Säure eines frischen Weins aus der Literflasche erinnerte er sich, als ob er sie eben erst auf der Zunge und in der Nase gehabt hätte.
An andere Weinproben erinnerte er sich auch, aber mit gemischten Gefühlen. In Hallgarten war er aus einem kühlen Weinkeller in die gleißende Mittagshitze hinaufgestiegen. Ihm waren auf der Stelle die Sinne geschwunden, als hätte ihn ein schwerer Hammer am Kopf getroffen. Er hatte sich torkelnd auf einen nahe gelegenen Friedhof gerettet und sich heftig übergeben. Er hatte sich auf eine Friedhofsbank legen müssen und war für Stunden eingeschlafen. Später, wenn er ins Erzählen kam und von den Zeiten schwärmte, in denen er im Rheingau Weinproben besucht hatte, ließ er diese Episode lieber aus. Er schämte sich für seinen Kontrollverlust und für die Pietätlosigkeit auf einem Gottesacker.
Boll schenkte den Wein in die Gläser ein. Sie nahmen einen ersten, vorsichtigen Schluck. An Jungs Gaumen entfaltete sich die strahlige, herbe Kühle eines gerade anbrechenden Sonnentages über dem Rheingau. Boll sagte nichts. Andächtig probierten sie einen zweiten, mutigeren Schluck. Sie stellten die Gläser zurück.
»Gut. Er lebt«, ließ Boll sich vernehmen.
»Und wie er lebt. Großartig. Wer hätte damals gedacht, dass wir heute hier sitzen und einen Wein trinken, den es niemals wieder geben wird? Mich beunruhigt das.« Jung schüttelte leicht mit dem Kopf und nippte erneut an seinem Glas. »Fast alles, was damals wichtig war, ist inzwischen für mich ziemlich belanglos geworden. Und was mir heute wichtig ist, daran habe ich damals keinen Gedanken verschwendet.«
»Verschwendung, das ist es, was ich oft empfinde, wenn ich auf mein Leben zurückblicke.«
Sie machten eine Pause und steckten die Nasen in die Gläser. Verlegenheit über die aufkommende Sentimentalität breitete sich aus. Sie wollten keine alten Leute sein, die über die vergangenen Zeiten redeten, als gäbe es nichts Besseres. Ihr Verstand sagte ihnen, dass das Gegenteil stimmte. Aber ihre Gefühle klebten an den Pilzen auf den felsigen Wänden in Oma Schells Weinkeller und dem Duft einer entkorkten Flasche Rauenthaler Spätlese.
*
»Unsere verabredete Strategie. Sie hat sich also bewährt, wenn auch nicht zu deiner vollen Zufriedenheit?«, brachte Boll das Gespräch auf seinen Ausgangspunkt zurück.
»Sie hat die Resultate gebracht, die du nun kennst. Ich bin eigentlich komplett gescheitert.«
»Das musst du mir erklären.« Boll sah Jung ungläubig an.
»Mit der Freundin der Toten hatte ich zuletzt nur noch Streit. Dabei sollte sie doch meine Komplizin und Helferin werden.«
»Das muss kein Widerspruch sein.«
»Meine Arbeit war nicht diskret genug. Sie war laut und bis nach Kiel ins Innenministerium zu hören. Ich weiß nicht, woran das gelegen hat. Holtgreve hat Druck von oben gekriegt und mir den Fall weggenommen. Nichts war’s mit der Vermeidung von Loyalitätskonflikten.« Jung schwieg.
»Für dein Versagen warst du ganz schön erfolgreich«, fasste Boll launig zusammen. »Was sagt der Leitende dazu?«
»Nichts. Er ist froh, den Fall und den Druck von oben los zu sein. Im Übrigen ignoriert er alles. Nicht einmal einen schriftlichen Bericht hat er von mir gewollt. Ich habe ihm dennoch eine Aufstellung der Fakten zukommen lassen, von Schlussfolgerungen und Empfehlungen aber abgesehen. Ich schrieb den Bericht mehr für mich selbst, um einen Schlusspunkt zu setzen. Er hat mich sofort mit neuer Arbeit eingedeckt.«
»Und die wäre?«
»Ein uralter Fall. Gut zehn Jahren her. Ein elfjähriges Mädchen macht sich mit ihrem Fahrrad auf den Weg vom elterlichen Hof ins nahe gelegene Husum. Sie kommt dort nie an. Sie und ihr Fahrrad sind niemals gefunden worden.«
»Wieso übergibt er dir den Fall erst jetzt?«
»Ich habe es aufgegeben, mir über die Motive des Leitenden Gedanken zu machen. Das führt zu nichts. Ich habe den Fall und kann mir Zeit lassen. Es sind Jahre vergangen, da spielen ein paar Wochen keine große Rolle. Das ist was für
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