Kinder
Schule: War der Vorsitzende der Paedaea denn nicht
inzwischen zu weich geworden für seinen Posten? Und zu alt …?
Die beiden Schüler, die mit großen Gesten und pathetischer
Stimme unter dem anhaltenden Gelächter der Unterstufenjungs eine Szene aus
»Romeo und Julia« aufgeführt hatten, verbeugten sich noch einmal geziert und
flitzten dann mit hochroten Gesichtern von der Bühne.
Rektor Wehling löste sich aus einer Gruppe von Eltern, mit denen er
sich vor der kleinen Theatereinlage unterhalten hatte, und steuerte auf die
Treppe zum Podium zu. Es war Zeit für seine Rede. Dann blieb er abrupt stehen.
Vor sich sah er Rainer Pietsch ebenfalls zur Bühne eilen, ihm folgte ein Paar,
das er nicht kannte – was war denn nun schon wieder los? Waren das Eltern,
denen er bisher noch nicht begegnet war?
Rainer Pietsch schaltete das Mikrofon ein und räusperte sich. »Darf
ich Sie kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«, fragte er laut, und auf dem
Schulhof kehrte Ruhe ein. Karin Knaup-Clement und einige andere Eltern, die bei
ihr standen, sahen plötzlich erschrocken aus, die anderen Zuschauer schienen
lediglich gespannt zu sein, welchen Programmpunkt er nun ankündigen würde.
Franz und Rosemarie Moeller standen unbeweglich am Fuß der
Podiumstreppe – sie warteten darauf, dass Rektor Wehling seine Rede hielt, und
hatten sich gleich danach auf den Weg machen wollen, um ihre Demonstration in
der Aula mit einer kleinen Ansprache einzuleiten.
»Wie viele von Ihnen wissen, haben meine Frau und ich sehr lange
deutlich Kritik ausgeübt am Ehepaar Moeller, den beiden Lehrern, die zu Beginn
dieses Schuljahres neu an unser Gymnasium kamen.«
Karin Knaup-Clement entdeckte Rektor Wehling in der Nähe des Podiums
und huschte zu ihm.
»Was ist denn jetzt wieder los?«, fragte sie ihn. »Was macht Herr
Pietsch denn da?«
Wehling zuckte nur mit den Schultern. Nicht weit von ihm entfernt
standen Christine Werkmann und Ursel Weber mit ihrem Mann. Benjamins Mutter sah
sich um, fing den fragenden Blick der Elternsprecherin auf und machte eine
Geste, mit der sie sie um Geduld bat.
»Wir haben mehrfach mit Herrn und Frau Moeller gesprochen, weil es
uns keine Ruhe gelassen hat, dass Sören Karrer, ein Schüler aus der neunten
Klasse, versucht hat sich das Leben zu nehmen – vermutlich, weil sein Lehrer
Franz Moeller ihn kontinuierlich unter Druck setzte und vor seiner Klasse
erniedrigte.«
»Ruhe jetzt!«, rief ein Vater dazwischen.
»Ungeheuerlich!«, stimmte eine Mutter zu.
»Schicken Sie Ihre Kinder doch auf eine andere Schule, wenn es Ihnen
hier nicht passt!«
Die allgemeine Ablehnung und die wütenden Rufe trafen Rainer Pietsch
mit voller Wucht, aber das musste er jetzt aushalten. Auch Annette Pietsch
fröstelte, als sie ihren Blick über die aufgeregt durcheinanderrufenden Festgäste
schweifen ließ, während sich Sarah, Michael und Lukas fragende Blicke zuwarfen.
Franz und Rosemarie Moeller dagegen standen nach wie vor am Fuß der Treppe und
schienen das Geschehen entspannt zu beobachten.
»Als Kevin Werkmann aus der sechsten Klasse direkt vor der Schule
tödlich verunglückte, wollte außer seiner Mutter und uns niemand wahrhaben,
dass dieser Junge sein Leben verlor, weil das Ehepaar Moeller unsere Kinder auf
eine Art lehrt oder eher dressiert, die unseren Kindern zwar Ehrgeiz und
Zielstrebigkeit einpflanzt – aber auf Kosten von Mitgefühl und Rücksichtnahme«,
fuhr Rainer Pietsch fort. Er musste seine Stimme erheben, um sich gegen den
weiter anschwellenden Tumult durchzusetzen. »Sie alle fanden es gut, dass Ihre
Kinder bessere Noten bekamen. Aber keiner von Ihnen fragte, ob unsere Kinder
dafür vielleicht auch einen Preis bezahlen müssen. Einen viel zu hohen Preis.«
»Stellt diesem Irren doch endlich das Mikrofon ab!«
»Kinderschänder!«
»Mensch, Pietsch, hau endlich ab aus dieser Stadt!«
Die Angriffe wurden immer heftiger, und Franz Moeller gestattete
sich ein leichtes Lächeln. Vor einem Fenster, das nur einen halben Meter über
dem Boden des Schulhofs lag und eines der Oberlichter der Aula darstellte,
stand ein Mann, beide Hände in den ausgebeulten Manteltaschen, der die Szenerie
aufmerksam betrachtete. Er hatte einige Gesichter unter den Anwesenden erkannt
und wusste, dass sie eigentlich nicht hier sein sollten. Beiläufig fuhr er sich
mit dem Finger über die Warze neben seiner Nase, dann trat er ein paar Schritte
zur Seite, um auf seinem Handy eine Kurzwahlnummer aufzurufen.
Rainer Pietsch hob
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