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Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Titel: Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Lorenz
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gut.
    Dennoch fuhr er seit sechs Jahren jeden Morgen mit der Bahn nach München (er war damals aus einem Traum aufgewacht, der ihn fortan begleiten sollte). Das Buch in seinen Händen, links und rechts am Gürtel eingebunden zwei große blaue Müllsäcke. Damit sah er wie eine Biene aus, die Blütenstaub sammelte – vielleicht war der Vergleich nicht einmal so verkehrt. Er streunte durch die Vororte, durchquerte die öffentlichen Parks, verweilte im Englischen Garten, folgte den Vögeln in alle Richtungen. Die Orte, die wirklich richtigen Orte, waren selten und versteckt. Die Plätze, an denen die Magie funktionierte, an denen der Zauber wirkte und sich Spätsommerhimmel und Sternschnuppen trafen. Die Schnittstelle zwischen Tag und Nacht, zwischen Gutenachtgeschichte und Mitternachtsschrecken.
    Hin und wieder fand er die guten Plätze an seltsamen Orten, in Seitengassen mit staubigen Fenstern und eingerissenen Vorhängen dahinter, Wäscheleinen von einem Ende zum anderen gespannt, vergessene Kleidungsstücke, die wie Leichenhemden im Wind flatterten. Wenn Leonard glaubte, angekommen zu sein, fing er an, aus dem Buch zu lesen. Leise, kaum hörbar. Er schickte jedes Wort auf die Reise um sich herum, über die Straße, um die ganze Welt. Er horchte auf, verstummte, wartete. Wenn man ihn gefragt hätte, woran er es gemerkt haben will, dass ein Ort ein richtiger Ort war, hätte Leonard vermutlich keine Antwort darauf gewusst. Ein Gefühl zwischen Magen und Herz, zwischen Augen und Hinterkopf sagte ihm, wenn er angekommen war. Hier wäre sie entlang gegangen, dachte sich Leonard dann und lächelte. Er sah sie in seinen Tagträumen, sah sie in diesen Straßen, eine wunderschöne Frau, ihr Duft wie der erste Frühlingswind. Ein paar Mal war er sogar sicher gewesen, ihre Wohnung gefunden zu haben. Schmale Fenster, hohe Türen.
    Natürlich lachten ihn die Leute aus. Ein gebückt gehender, fülliger Mann mit fettigen Haaren und Müllbeuteln an den Hosen, der aus einem Buch vorlas und zum Himmel blickte, als würde er dort oben jene Engel finden, die ihm zuhörten.
Da ist er ja wieder, der Oberspinner
, sagten sie. Oder auch:
Schau, dass du wegkommst, sonst kommst nach Haar!
    Haar, das wusste Leonard, war die berüchtigte Psychiatrie in München – ein Haus mit gierigen Mäulern statt Türen und listigen Augen statt Fenstern.
    Wenn er angekommen war, musste alles sehr schnell gehen. Leonard sammelte sämtliches Laub auf der Straße ein und stopfte es in seine Beutel. Wäre Karla hier gewesen, hätten die Blätter ihren Duft eingeatmet und ihr Geruch hätte sie im Herbst verfärbt. Leonard glaubte fest daran, dass man Seelen nicht aufhalten konnte, und selbst ein Wachkoma eine Seele nicht daran hindern konnte, sich auf den Weg zu machen.
    Trage fort, trage fort.
    Steine wurden nach ihm geworfen, und eine alte Frau schüttete brackiges Blumenwasser aus dem Fenster. »Das kleine Flittchen wird schön langsam verrecken«, glaubte Leonard gehört zu haben. Doch als er hinaufsah, war das Fenster wieder leer, ein weißer Vorhang wehte im Wind.

Tom
     
    Selbstverständlich wusste Tom, dass seine Arbeit vergebens war. In dieser Stadt las man keine Bücher. Nur ab und zu, vorwiegend in den Herbsttagen, verschlug es ein paar Leute hierher, meistens Kinder. Im Grunde waren es ausschließlich Kinder, die durch die schwere Holztür kamen. Daneben das grüne Schild mit der Aufschrift:
Stadtbibliothek, Öffnungszeiten: Montag bis Freitag 11 bis 17 Uhr
. Wie scheues Wild, das aus dem Dickicht des Waldes auf eine Lichtung läuft, immer auf der Hut, jeder Schritt bedacht. Als erwarte sie hier das Fegefeuer, von dem der Pfarrer am Sonntag in der Kirche sprach (seine Schilderungen waren besonders grausam, wenn er bereits angetrunken war). Mit hellen Augen und offenen Mündern durchquerten die Kinder die schmalen Gänge zwischen den hohen Regalen, und wenn sie sich unbeobachtet fühlten, betasteten sie die Buchrücken mit zitternden Fingern. Auch das taten sie mit Bedacht.
    Seit der Eröffnung vor sieben Jahren hatte Tom genau elf Büchereiausweise ausgestellt. Ein trostloses Geschäft, um es so zu sagen. Aber das war ihm nicht besonders wichtig. Tom war gerne hier. Er mochte die Bücher und ihren Geruch, mochte diesen Raum und vor allem mochte er das Zimmer hinter der Kaffeeküche. Von den elf Mitgliedern (Tom nannte sie so, irgendwie war das hier wie ein Club, ein Club der Sonderbaren) kam eigentlich nur Stephan Bremer regelmäßig in die

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