Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken
sie.«
Christophs Herz stolperte. Er hatte die Fotografie zwischen den Sachen gefunden, die auf dem schmalen Straßenstreifen vor ihrem Haus gelegen hatten. Ein lächelndes Mädchen mit Spangen und Bändern im blonden Haar, hinter ihr ein Haus, ein Gartenzaun. Ein Hund im Hintergrund, voller Neugier in die Kamera blickend.
»Sie sind Freundinnen. Ich glaube, sie mögen sich sehr.«
Christoph strich sachte über die Fotografie und legte sie neben den Stapel Papier.
»Was siehst du noch in diesem Traum?«
Arik zögerte. »Es kommen Menschen zu ihnen. Viele. Sie müssen sich runterbeugen zu Sara und Karla. Sie haben irgendwie Angst. Sie beugen sich und küssen die Mädchen auf die Wangen.«
»Was geschieht dann? Nach dem Kuss?«
»Ich weiß es nicht. Es ist seltsam. Und es macht mir Angst. Diese Leute schreien. Als hätten sie Schmerzen. Unendlich große Schmerzen.«
Arik hatte wahllos eine der Schachteln herausgezogen und geöffnet.
Murrs-Zigaretten
stand darauf, aber auch ein Name:
Michael Sandner
. Ein merkwürdiges Zimmer voller Kisten und Gedanken, voller Erinnerungen und Träume.
»Glauben Sie, sie bestrafen die Menschen?«
Christoph hatte Arik hierher gebracht, um ihm zu zeigen, was er nicht ausdrücken konnte. Arik war nicht überrascht gewesen, vielmehr erleichtert, als wenn beim Topfschlagen die Augenbinde verrutscht, und man endlich weiß, in welche Richtung man kriechen muss.
Christoph dachte noch über eine Antwort nach, als Arik eine weitere Frage stellte: »Und all diese Kisten hat der alte Murr gesammelt?«
»Ich bin mir ziemlich sicher. Es gibt Menschen, die etwas Besonderes sind. Du weißt schon, anders. Ich denke, Murr war so einer. Vielleicht hat ihm auch jemand geholfen, wer weiß? Kinder vielleicht.«
»Oder Geister.« Arik lächelte.
Christoph erwiderte sein Lächeln. »Oder Geister.« Dann sagte er: »Ja, das tun sie.«
Arik sah ihn fragend an.
»Karla und Sara hätten jedes Recht, die Menschen zu bestrafen.«
Arik nickte nur. Natürlich wollte er wissen, warum das so war. Aber er hatte Angst vor der Antwort. Stattdessen öffnete er eine weitere Zigarettenkiste. Eine leere Colaflasche lag darin, die anderen Habseligkeiten rollten auf dem Schachtelboden umher: ein Spielzeugauto, eine rote Clownsnase und ein gelbes U-Boot aus Plastik. Arik las den Namen auf der Außenseite der Kiste:
Albert Sterner
.
»Wird in diesem Herbst wieder etwas geschehen?«, fragte er plötzlich.
Christoph sah zu dem Jungen auf. »Ja!«
Arik legte die Schachtel zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, sein wild pochendes Herz beschützend.
»Aber wir können ein Wunder geschehen lassen«, sagte Christoph und faltete die Hände wie zu einem Gebet.
Ariks Brustkorb hob und senkte sich immer schneller.
Sie betrachteten einander, Christoph und Arik, während ein Windhauch durch das rote Haus strich. Während die Wolken nach Osten zogen, einige Grillen erwachten und der Himmel die Farbe wechselte.
»Wir holen die Kinder zurück«, sagte Christoph. »Alle.«
Und in diesem Moment wusste Arik, dass der Knochenmann ihn niemals belügen würde.
Über den Autor
Richard Lorenz , geboren 1972 in Freising, und heute in München lebend, arbeitete im Bereich der onkologischen Pflege und Palliativmedizin, als freier Journalist für die Süddeutsche Zeitung Freising und als Konzertveranstalter, bevor er sich ganz auf das literarische Schreiben konzentrierte. Zahlreiche seiner Kurzgeschichten wurden seither veröffentlicht. Im Frühjahr 2014 erscheint zudem sein erster Roman »AMERIKA PLAKATE oder wie Leibrand aus der Welt fiel« in der Edition Phantasia.
Vorschau
Am 07.02.2014 erscheint der vierte Teil der Reihe
Kinderland
von Richard Lorenz: »Herbstgebete«.
Weitere Informationen zur Reihe finden Sie unter www.heypublishing.com/kinderland .
Bleiben Sie mit unserem eBook-Newsletter über weitere Neuerscheinungen informiert.
Weitere Kostenlose Bücher