Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken
alten Murr, vom Grabhügel, von den Schrecken jener Nacht. Es war schon merkwürdig, dass er kaum an ihn hatte denken müssen, dass er nie zu ihm gegangen war. Inmitten des verborgenen Zimmers jedoch waren diese Dinge vom Taumellicht befreit – die Zeit war wohl noch nicht reif, schlicht und einfach.
Im Raum gab es ein schmales Fenster, von dem aus Tom zum Murr-Haus blicken konnte, und zum Himmel. Er stand gerne dort, vor allem, wenn das Wetter umschwang und trübe schwere Wolken die Welt kleiner machten. Seiner Frau erzählte er nichts von dem Zimmer, Claudia hätte es nicht verstanden. Er erwähnte nicht den warmen Kirschholzboden, auch nicht das Fenster und den Ausblick, den es bot. Natürlich erzählte er auch nichts von den Büchern, die er dort lagerte. Jeden Tag ein anderes Buch, mittwochs natürlich »Wo die wilden Kerle wohnen«, Ausgabe an Ausgabe gelehnt. Das selbst zusammengeschraubte Regal wackelig, der Stuhl daneben zerschlissen. Das hier war der beste Ort der Welt, fand Tom. War sein Leben zuvor noch fahrig gewesen, lose Traumfragmente, die ihn unruhig machten, bekamen seine Träume in diesem Zimmer wieder Stimmen. Zwar noch leise, unverständlich, aber sie waren da.
Und das war gut. Sehr gut.
Magdalena
Beinahe dreizehn Jahre waren vergangen seit dem Jahrhundertunwetter. Sie alle waren erwachsen geworden. Die Schritte leiser, die Atemzüge länger. Magdalenas Onkel hatte am 1. November in der Leichenhalle gehangen. Sein Name auf dem Grabstein stand nur wenige Wochen, jemand hatte ihn ausgekratzt. Und so blieb es bis heute, eine freigeschabte Stelle auf dunklem Basalt. Als hätte er niemals existiert.
Magdalena ging nicht gerne auf den Friedhof, auch nicht zum Grab ihrer Eltern. Den Friedhofswärter aber mochte sie. Frank, der Leichenwäscher, wie ihn die Leute ein wenig abfällig nannten. Einmal im Monat tauchte Frank im Krankenhaus auf, seine Lunge und sein Herz wollten nicht mehr so recht. Wasser staute sich in den Beinen, so sehr, dass seine Füße nicht mehr in die Schuhe passten. »Jeder muss sterben, warum sollte ich eine Ausnahme machen?«, sagte er dann und zeigte ein Alte-Männer-Grinsen, das Magdalena jedes Mal erneut ein Lächeln entlockte. Dabei, und das wusste jeder hier im Sankt Martin Krankenhaus, müsste Frank eigentlich schon längst tot sein. Mit seinem Röntgenbild konnte man junge Assistenzärzte in Schockstarre versetzen – es zeigte ein ausgeprägtes Bronchial-Karzinom, und das bereits seit drei Jahren. Zweimal im Jahr schoben sie ihn durch das CT, um Metastasen zu suchen, aber auch, weil sie ihrem eigenen Urteil nicht trauten. Die Ärzte wollten unbedingt, dass Frank eine Chemotherapie machte, doch er blieb sämtlichen Terminen fern. Außer seinen Beinödemen hatte er keine Beschwerden – keine ausgeprägte Atemnot, kein Erstickungsgefühl und keine Schmerzen.
Jeder im Krankenhaus hatte seine eigene Theorie darüber, weshalb Frank immer noch am Leben war. Immer wieder gab es Patienten, die nicht sterben konnten, bis endlich der Mensch zu ihnen kam, den sie am meisten vermissen. Daran glaubte auch Magdalena, denn sie hatte es oft genug erlebt. Frauen wie Männer, deren Atem flach und stockend war, deren Herzfeuer aber weiter glomm. Herzfeuer konnten nur Menschen löschen, die man liebte. Ihnen oblag die letzte große Aufgabe eines Lebens, während die Welt außerhalb des Krankenhauses wie ein Riesenrad an der höchsten Stelle stehenblieb.
Karla wurde regelmäßig ins Krankenhaus gebracht. Zwar hatten ihre Eltern eine Krankenschwester eingestellt, die Karla pflegte, aber sobald sich ein Infekt ankündigte oder ein neuer Dekubitus abzeichnete, war die Zeit gekommen, ihre Suite 283 im Sankt Martin zu beziehen. Natürlich auch, wenn es Ärger mit der künstlichen Ernährung gab und ihre PEG verstopft war, oder Karla einen neuen Katheter brauchte.
Jeder mochte Karla. Sie war der Glücksbringer der Krankenstation. Es hieß, wenn man sich etwas wünschte, müsste man sich nur an das Bett stellen, ihre Hand nehmen und ihr den Wunsch ins Ohr flüstern. Dann würde er in Erfüllung gehen. In jedem Krankenhaus gibt es solche Geschichten, aber bei Karla funktionierte es tatsächlich. Nicht immer, aber oft genug. Es war, als wollte man den lieben Gott herausfordern. Oder den Teufel. Vielleicht sogar beide.
Eines Tages wagte es Schwester Anna, die seit ihrer Kindheit Zahnschmerzen hatte. Ihre Zähne, und das erzählte sie jedem, der es hören und auch jedem, der es nicht hören
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