Die gefangene Braut
1
Das Wetter war an diesem Vorfrühlingstag des Jahres 1883 erfreulich warm. Eine leichte Brise spielte in den alten Eichen, die den langen Privatweg zur Villa Wakefield säumten. Zwei prächtige weiße Rösser, die vor einen offenen Wagen gespannt waren, standen schnaufend vor dem großen, zweistöckigen Gutshaus.
Im Innern des Hauses lief Tommy Huntington gereizt durch den riesigen Salon mit den Polstermöbeln aus Goldbrokat und wartete ungeduldig darauf, daß Christina Wakefield herunterkommen würde. Tommy war zu ihr geeilt, um mit ihr zu sprechen, nachdem er endlich zu einer Entscheidung gekommen war, was sie betraf, aber jetzt wurde er zusehends nervöser.
Verdammt, sie hat doch sonst nie so lange gebraucht, dachte er, als er endlich vor dem Fenster stehenblieb, das einen Ausblick auf das gewaltige Anwesen der Wakefields bot, es dauert erst so lange, seit sie angefangen hat, Kleider zu tragen und sich die Haare hochzustecken. Wenn er sie jetzt aufsuchte, endete es jedesmal damit, daß er eine halbe Stunde oder gar länger wartete, ehe sie sich zu ihm gesellte.
Tommy ließ sich das, was er ihr sagen wollte, gerade noch einmal durch den Kopf gehen, als zwei zarte Hände über seine Augen glitten und er Christinas Brüste spürte, die sich gegen seinen Rücken preßten.
»Rat mal, wer das ist?« flüsterte sie ihm verspielt ins Ohr.
O Gott, er wünschte, sie würde das endlich bleibenlassen. Als sie Kinder waren, die gemeinsam aufwuchsen, war alles schön und gut gewesen, aber in der letzten Zeit brachte ihre Nähe ihn vor Verlangen fast um den Verstand.
Er drehte sich zu ihr um und war von ihrer außergewöhnlichen Schönheit bezaubert. Sie trug ein figurbetontes Kleid aus dunkelblauem Samt, dessen Kragen und lange Ärmel weiße Spitze zierte, und ihr goldenes Haar wand sich in zahllosen Ringellöckchen um ihren Kopf.
»Ich wünschte, du würdest mich nicht so anstarren, Tommy. Das tust du in letzter Zeit immer häufiger, und es macht mich nervös. Wenn ich es nicht besser wüßte, könnte ich fast glauben, ich hätte Schmutz im Gesicht.«
»Es tut mir leid, Crissy«, stammelte er. »Es liegt nur daran, daß du dich in diesem letzten Jahr so sehr verändert hast, daß ich mir nicht mehr zu helfen weiß. Du bist so schön geworden.«
»Also, hör mal, Tommy Huntington, willst du damit etwa sagen, daß ich früher häßlich war?« neckte ihn Christina, die jetzt die Beleidigte spielte.
»Natürlich nicht. Du weißt doch, was ich meine.«
»Schon gut, ich verzeihe dir«, sagte sie lachend, während sie auf das Sofa mit dem Bezug aus Goldbrokat zuging und sich setzte. »Und jetzt sag mir, warum du so früh gekommen bist. Ich habe dich nicht vor dem Abendessen erwartet, und Johnsy hat mir gesagt, du seist völlig erschöpft ins Haus gestürzt.«
Tommy verlor die Fassung und versuchte die richtigen Worte zu finden, denn er hatte sich seine kleine Ansprache nicht zurechtgelegt. Jetzt war es wohl besser, wenn er irgend etwas sagte, ehe der Mut ihn verließ.
»Crissy, ich möchte nicht, daß du diesen Sommer in London verbringst. Dein Bruder kommt in wenigen Monaten zurück, und ich habe vor, bei ihm um deine Hand anzuhalten. Wenn wir erst verheiratet sind und du dir London immer noch ansehen möchtest, nehme ich dich mit nach London.«
Christina starrte ihn entgeistert an. »Du scheinst zuviel als selbstverständlich vorauszusetzen, Tommy«, sagte sie barsch, doch als sie sah, welch ein betroffener Blick auf sein knabenhaftes Gesicht trat, war sie wieder ein wenig besänftigt. Schließlich hatte sie schon immer gewußt, daß es eines Tages dazu kommen würde. »Es tut mir leid, daß ich so grob war. Mir ist klar, daß unsere Familien uns immer als ein perfektes Paar angesehen haben, und vielleicht heiraten wir eines Tages, aber bestimmt nicht jetzt. Du bist erst achtzehn Jahre, und ich bin siebzehn. Wir sind zu jung zum Heiraten. Du weißt, daß ich hier immer sehr isoliert gelebt habe. Ich liebe mein Zuhause, aber ich möchte neue Leute kennenlernen und die Aufregungen Londons erleben. Kannst du das denn nicht verstehen?«
Sie wartete ab, denn sie wollte ihn nicht verletzen. »Ich liebe dich, Tommy, aber nicht so, wie du es willst. Du bist immer mein bester Freund gewesen, und ich liebe dich so, wie ich meinen Bruder liebe.«
Er hatte ihr geduldig zugehört, denn er wußte, wie willensstark sie war, aber ihre letzten Worte hatten ihn zutiefst verletzt.
»Verdammt noch mal, Crissy. Ich will dir kein
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