Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
Polaroidfotografien, Hundehalsbänder, Knallfrösche, Sammelkarten. Kinderdinge, verlorengegangen und wiedergefunden. Säuberlich und winzig geschrieben die Namen der Kinder neben dem Kometenschweif des Logos.
Christoph setzte sich auf den Boden. Seine Beine und Hände zitterten, in seinen Schläfen vibrierten Adern. Er sah sich um und fand schließlich seinen eigenen Namen auf einer Schachtel, inmitten der Verlorenen. Er zog die Schachtel heraus und legte seine Hände darauf. Sie war nicht sonderlich schwer. Er dachte an seine Kindheit zu Hause, fernab der Zeit, die er mit seinen Freunden an versteckten Plätzen verbracht hatte. Hatten ihn seine Eltern geliebt? Hatte er seine Eltern geliebt? Irgendwann ein mal? Weihnachtsfeste, Geburtstage, gute Noten. All diese Dinge, all diese Tage waren leer gewesen, als wäre er bei Fremden zu Besuch.
Erst als die Dämmerung einsetzte und der späte Sommer den Tag abkühlte, öffnete Christoph die Schachtel mit seinem Namen darauf. Leuchtkäfer schwirrten an der Zimmerdecke, Ameisen krochen in die Ecken, ansonsten Stille. Sein weißer Umhang. Ein Buch, das er sehr gemocht hatte. Zauberkunststücke und wie man einen Hund verschwinden lässt (er erinnerte sich an den Hund der Nachbarn, der einfach nicht verschwinden wollte). Eine Fotografie, Sara auf ihrem Fahrrad. An den Ecken gebogen, der Glanz längst zerkratzt. Für eine Weile war es sein Talisman gewesen, sein Halt, wenn er nicht hatte einschlafen können in den dunklen Nächten jener Tage.
Er nahm ein Polaroidfoto heraus, verblasst, ohne Leben. Er stand im Garten, neben ihm seine Schwester, sein Arm um sie gelegt. Sophie, das Regenmädchen. Jemand hatte das Foto in kleine Stücke zerrissen, und ein anderer hatte es wieder zusammengeklebt.
Genauso fühlte sich Christoph.
Jedes Kind hatte eine Geschichte. Das jedenfalls dachte sich Christoph. Aber auch, dass diese Stadt, dieser Ort kein Platz war für Geschichten. Nur alleine hier, im roten Haus, dem Haus mit den blassen Schindeln und dem widerspenstigen Holzofen, flüsterten die Stimmen von den Abenteuern, die nicht stattgefunden hatten. Von Raufereien in staubigen Hinterhöfen und ersten Küssen hinter hoch gewachsenen Bäumen, von Himmelsbeobachtungen und Sternenzählungen um Mitternacht.
Im folgenden Herbst schon schrieb Christoph seinen Roman auf der alten Olivetti-Schreibmaschine, die er in einem der Zimmer gefunden hatte. Schrieb jeden Tag dreizehn Seiten von den Wesen, die sich in Schatten versteckten und erst herauskamen, sobald man seine Augen schloss. Kinder brauchen ihre Geschichten, um diese Schatten besiegen zu können, um nicht selbst zu einem Schatten zu werden. Erwachsenen fehlt vermutlich diese Gabe. Die Gabe richtig zu atmen, jene Atemtechnik, die Kinder nicht ertrinken lässt, weil sie für eine Zeit lang wie wunderschöne Fische sind. Sein Roman handelte davon. Wenngleich die Leute dies nicht bemerkten, gefiel ihnen doch die Wärme, die von den Geschichten der Kinder ausging.
Wahrscheinlich hätte er in die nächste Stadt gehen müssen, um eine Arbeit zu finden, vielleicht in einer der großen Wäschereien, um danach mit dem Geruch von Bleichmittel an den Händen seine Geschichte erzählen zu können. Aber neben den Kisten der Erinnerungen fand Christoph auch dreiunddreißig Schuhkartons, mit Klebeband verschlossen. Jeder davon war gefüllt mit Geldscheinen, glatt gestreifte Zehn-Mark-Scheine, hundert Stück pro Karton. Nur Murr konnte so viel Geld besessen haben. Jener Mann, den sie in einem Sarg hatten liegen sehen, den Mund zugeklebt. Wenngleich Christoph nicht wusste, was Murr mit dem Geld vorgehabt hatte, entschloss er sich, etwas davon zu nehmen, um in der Stadt bleiben zu können. Später, als sein Buch ein Erfolg wurde, legte er Schein für Schein wieder zurück. Irgendwann würde jemand dieses Geld notwendiger brauchen als er selbst.
Christoph stand auf, die Schachtel in der Hand. Es war Zeit, das Kinderland zu verlassen.
Über zwanzig Jahre später waren sie immer noch dort oben in dem Haus auf dem Grabhügel. Längst zu Gespenstern geworden. Die Fenster zerbrochen, wuchernde Sträucher. Der Schornstein brüchig, die Dachschindeln lose. Vom Wind längst fortgetragen der Zaun, der mächtige Wintergarten fast zerstört. Christoph fragte sich, warum niemand den Mut gehabt hatte. Nicht einmal er selbst. Sie waren immer noch Kinder dort oben, nur er selbst war erwachsen geworden und die Alten längst gestorben. Es war ein Geisterhaus,
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