Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
gemacht«.
Der Abzug klemmte, das Gehäuse war an den Ecken verbeult, als ob es mehrmals heruntergefallen war. Auf der Rückseite hatte jemand einen Namen eingekratzt: J. Berender.
Dabei hatte ich noch nie in meinem Leben fotografiert. Heute laufen die Leute herum und machen Fotos mit ihren komischen Telefonen. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, warum sie immer alles fotografieren müssen. Damals war das anders. Die Filme waren teuer, und wir waren nicht so verrückt, unsere eigenen Füße abzulichten.
Ich weiß noch, das erste Bild schoss ich in unserem Haus. Natürlich war es viel zu dunkel, und die Blende blieb zu lange auf. Sie müssen wissen, meine Frau war eine sehr kluge Frau. Sie lachte ihr bestes Lachen und zog aus ihrer Handtasche ein schmales Büchlein, das sie zusammen mit der Kamera gekauft hatte. »Fotografieren und Entwickeln leicht gemacht«, hieß es, wenn ich mich recht erinnere. Es muss noch irgendwo herumliegen.
In der Abstellkammer richtete ich mir eine winzige Dunkelkammer ein. Die ersten drei Filme gingen total daneben, und eigentlich wollte ich es schon aufgeben, aber dann funktionierte es plötzlich. Das erste gelungene Foto hängt immer noch in der Küche: eine Krähe auf einer Überlandleitung. Ich weiß, es ist nicht sonderlich originell – aber es ist gut. Es fühlte sich damals richtig an und tut es heute noch.
1973 war ein verrücktes Jahr. Wir arbeiteten fast alle in der Zigarettenfabrik, auch meine Frau. Im Sommer suchten die Kinder nach einer Sammelkarte, die es angeblich hinter dem Zellophan der Verpackungen zu finden gab. Ich selbst habe nie eine davon gesehen, aber das muss nichts heißen. Die Kinder waren wie Ameisen an einem Sommertag, ihre Stimmen ein Geheul. Ich weiß nicht, es hat mir damals irgendwie Angst gemacht.
An den Abenden ging ich mit der Zenit um den Hals spazieren, in der Hoffnung, ein, zwei gute Fotos zu schießen. In München gab es einige große Zeitungen, die hin und wieder Leser-Fotos abdruckten. Manchmal bekam man sogar Geld dafür.
Im Leben vergisst man viele Dinge. Auch viele wichtige Dinge. Aber das, was ich an einem jener Abende gesehen habe, werde ich nie vergessen: Ich nahm den Objektiv-Deckel herunter, schob ihn in meine Hosentasche und betrachtete durch die Linse das Murr-Haus auf dem Grabhügel. Ein Mädchen saß auf dem Schornstein. Die Beine baumelten herunter und wackelten hin und her. Es sah über die Häuser hinweg.
Natürlich bin ich erschrocken, das können Sie mir glauben. Ich weiß noch, dass mein Herz stolperte, und dass es einen kurzen Schmerz gab in meiner Brust. Gut, dass ich den Riemen der Kamera um meinen Hals geschlungen hatte, denn sie fiel mir aus den Händen. Ich sah noch einmal hin. Aber da war kein Mädchen. Da war nur ein Schornstein, mehr nicht.
Ich nahm die Kamera und blickte durch den Sucher. Das Kind war wieder da. Wie bei einer Zauberkamera, aber natürlich glaubte ich nicht an solchen Quatsch. Vielleicht, und das dachte ich mir damals, sehen wir manchmal mit den falschen Augen. Ich machte natürlich ein Foto davon, auch wenn ich ahnte, oder vielleicht auch wusste, dass auf dem Abzug kein Kind sein würde. Und so war es dann auch. Drei Fotografien von einem Schornstein. Kein normaler Mensch fotografiert einen Schornstein, also zerriss ich die Aufnahmen noch in der Dunkelkammer. Und kein Mann auf der ganzen Welt sagt seiner Ehefrau alles. Jeder Mensch behält Dinge für sich, die man nicht unbedingt sagen muss. Glauben Sie mir, ich habe lange darüber nachgedacht, und oft war ich kurz davor, sie aufzuwecken und ihr davon zu erzählen. Aber ich konnte es nicht.
Denn es blieb nicht bei dem Kind auf dem Schornstein.
Im frühen Herbst 1973, bevor der Knochenjunge mit seinen Freunden dort hinaufging und alles irgendwie aus dem Ruder lief, sah ich für andere unsichtbare Kinder auf Bäumen sitzen, über Straßen laufen, die Waldstücke durchstreifen. Ich beobachtete sie durch die Kamera, wie man scheue Vögel durch ein Fernglas beobachtet. Kurz bevor ich wieder nach Hause ging, machte ich noch ein paar Bilder von Krähen auf Überlandleitungen.
Verzeihen Sie, wenn ich manchmal ein wenig abschweife oder den Faden verliere. Das kann am Morphin liegen und vielleicht auch ein wenig daran, dass niemand die Geschichte dieser Stadt jemals verstehen wird. Erinnern Sie sich an Ihre Kindheit? Das ist gut, denn Sie werden jeden Glauben brauchen, den Sie noch finden können. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die
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