Kindersucher
oder?« Felix Klemper stopfte sich eine Serviette zwischen seinen dicken Hals und den Hemdkragen. Er war Direktor irgendeiner zweitklassigen Versicherungsfirma am Hermannplatz und liebte es, wie Kraus sich erinnerte, mit seinem dummen Geschwätz zu demonstrieren, wie überlegen er seiner Gemahlin war. Dieser Mann war ein waschechter Flegel.
Und seine Frau war auch nicht gerade eine Leuchte.
Die Rippchen jedoch waren in scharfem Pfeffer, Senf und Meerrettich gekocht und sahen wirklich großartig aus. Und sie waren scharf genug, um einem eine Woche lang Verdauungsstörungen zu bereiten. Vielleicht ist ein solcher Reizzustand ja nur ein natürlicher Teil des Lebenszyklus, überlegte Kraus, dessen Magensäfte bereits strömten, als ein übervoller Teller in seine Richtung gereicht wurde. Er gab keinen Pfifferling auf die aufgeblasenen, angeheirateten Verwandten der Winkelmanns, stellte jedoch fest, dass er regelmäßig mit ihnen zu Abend aß.
Wie die meisten Mietblocks im bürgerlichen Wilmersdorf war auch der in der Beckmannstraße 82 bis 84 rund um einen zentralen Hinterhof erbaut, in dem ein Flecken Gras und ein paar Bäume wuchsen. Sieben Jahre lang wohnten die Familien Kraus und Winkelmann bereits Tür an Tür im dritten Stock. Sie teilten sich einen gemeinsamen Balkon, und ihre Jungen waren gleich alt. Obwohl die eine Familie jüdisch und die andere christlich war, hatte sich ihrer beider Leben miteinander verwoben wie das Efeu, das an den Mauern des Hinterhofs hinaufwuchs.
Kindergeburtstage wurden stets gemeinsam gefeiert. Zum Glück war es an diesem Herbstabend warm genug, um den von Heinz Winkelmann in leichten Sommerjacketts auf der Terrasse zu feiern. An den Rankgittern über ihren Köpfen blühten immer noch Rosen. Die Kinder, die nicht einmal an ihren Geburtstagen Delikatessen wie scharf gewürzte Rippchen bekamen, hatten bereits ihr aus Klößen bestehendes Abendessen verdrückt und waren im Hof zu hören, wo sie Cowboy und Indianer spielten. Die Erwachsenen waren bereits bei der dritten Flasche Riesling angelangt und konnten es kaum erwarten, endlich zu schlemmen. Aber als sie sich gerade auf das Fleisch stürzen wollten, erstarrte Frau Klemper, das Messer in der Hand, und sah sich mit vor Verlegenheit gerötetem Gesicht um. »Seid ihr wirklich alle sicher, dass man diese Rippchen ungefährdet essen kann?«
Die Wucht des folgenden Schweigens hätte den ganzen Mietblock dem Erdboden gleichmachen können.
Das Entsetzen in den Augen von Frau Winkelmann verdeutlichte, dass ihre Schwägerin ihr das Messer auch gleich in die Kehle hätte rammen können. Jedenfalls hatte sie den ganzen Abend ruiniert, all ihre Stunden vor dem heißen Ofen, ja, Heinz’ neunten Geburtstag vollständig zunichtegemacht.
Hortsthaler hatte recht gehabt, das begriff Kraus plötzlich. Die Angst vor der vergifteten Wurst terrorisierte Berlin tatsächlich.
Am Nachmittag waren zwei weitere Menschen gestorben und zwölf andere in Krankenhäuser eingeliefert worden. Der Gesundheitsminister hatte ganz offiziell den Verkauf sämtlicher Wurst verboten, bis die Quelle der Vergiftung gefunden worden war. WURST IN BERLIN – AUS!, titelten die Nachmittagsblätter in Schlagzeilen mit so großen Lettern wie bei der Abdankung des Kaisers.
Vickis Blick sagte Kraus, dass sie ihm nicht in den Rücken fallen wollte, als sie jetzt einen Rettungsversuch unternahm. Er hatte ihr ein paar Einzelheiten verraten, die er erfahren hatte, seit er heute auf den Fall angesetzt worden war. Obwohl Vicki normalerweise nicht einmal im Traum daran dachte, solche Informationen bei einem gesellschaftlichen Ereignis preiszugeben, erforderten es diesmal, so bat ihn ihr flehentlicher Blick, die außergewöhnlichen Umstände.
»Selbstverständlich ist das Fleisch ungefährlich, Frau Klemper.« Die Augen unter ihren langen, dunklen Wimpern schimmerten. »Das Problem ist ausschließlich auf Wurst begrenzt. Das stimmt doch, Liebling?«
Der schimmernde Blick richtete sich auf Kraus.
»Ja, vollkommen.« Er unterstützte Vicki instinktiv. »Das Fleisch ist absolut unbedenklich.«
Er wusste nicht mit Sicherheit, ob das stimmte, aber er wusste, dass sein Wort genügte, um jegliche Diskussionen zu beenden und die Feier der Winkelmanns zu retten. Grund genug, es zu geben. Seit sieben Jahren hatten sich die Familien durch Geburten, Todesfälle, Windpocken, gebrochene Knochen, Hochkonjunktur und wirtschaftliches Chaos begleitet. Eine kleine, harmlose Lüge, ein gelinder
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