0944 - Blutgespenster
Lucy war ein Vampir. Sie lebte vom Blut der anderen schon über hundert Jahre. Und jetzt wartete sie darauf, daß sich auch die anderen Vampire hinter dem Gitter bewegten und den Weg zu ihr fanden, denn sie waren durch die Bestie erst zu Blutsaugern gemacht worden, nachdem Lucy sie von Rumänien in ein anderes Land geschleust hatte.
Unter einem Hügel hielt sie die Meute versteckt. So lange, bis die Zeit reif war, sie wieder in Freiheit zu entlassen, damit sie ihren Durst stillen konnten. Sie gierten danach, endlich wieder frisches Menschenblut trinken zu können.
Es waren nicht wenige, die ihr Versteck im Hügel gefunden hatten und jetzt durch das tanzende Licht angelockt wurden.
Jenseits des Gitters erlebte Lucy Tarlington die schattenhaften und auch kompakten Bewegungen der Leiber, denn die Untoten hatten auf dem Boden gelegen. Apathisch, mit ihren Gedanken woanders. An das sprudelnde Blut der Menschen denkend, das sie irgendwann bekommen würden, damit sie nicht mehr so verdorrt aussahen, sondern eine gewisse Frische bekamen, die der eines frisch Verstorbenen ähnelte.
Lucy hörte sie.
Lucy lächelte.
Ihr Mund war verzerrt. Ihre Vampirzähne blinkten wie kleine, frisch geputzte Dolche. Auch sie brauchte den Saft der Menschen, doch im Gegensatz zu denen hinter dem Gitter hatte sie sich schon sättigen können.
Im zweiten Teil der Höhle war das Grauen allmählich erwacht. Durch die dumpfe stickige Dunkelheit wehte ein widerlicher Geruch, für einen Menschen so gut wie nicht zu atmen, aber Lucy nahm ihn nicht wahr. Und wenn, er hätte ihr nichts ausgemacht.
Die Brut war schwach, aber die Brut bewegte sich. Keiner schaffte es, sich aus seiner liegenden und kriechenden Haltung zu befreien. Sie mußten am Boden bleiben, um ihr Ziel zu erreichen, vier tanzende Flammen, für sie wie ein Schimmer der Hoffnung.
Lucy wartete lächelnd ab, den Blick ihrer toten Augen in das Dunkel hinter dem Gitter gerichtet.
Sie krochen über den Boden wie verwundete Tiere. Sie hörte die Brut ächzen, klagende und jammernde Laute ausstoßen, die wie das Geheul ferner Hyänen klangen.
Dazwischen ein schweres Stöhnen, in dem eine tiefe Verzweiflung mitklang, aber auch schrille Laute, fast zu vergleichen mit einem hohen Gelächter.
Sie kamen.
Lucy sah die stärksten unter ihnen als erste, die sich als über den Boden schleifende Schatten dem Gitter näherten, wo die Person zu sehen war, die für ihre Veränderung gesorgt hatte.
Sie schob sich vor wie eine müde Schwimmerin. Schlaff hoben sich die Arme in die Höhe, als wollten sie dort Halt suchen, um ebenso schlaff wieder nach unten zu fallen, wo sich die Finger krümmten, um in und an irgendwelchen Ritzen im Boden einen Halt zu finden, der fest genug war, um sich daran weiterziehen zu können.
Sie kamen voran.
Stück für Stück.
Und einer von ihnen hatte die Spitze übernommen und die anderen bereits um eine Körperlänge überholt. Er war am stärksten, auch wenn er sich nicht auf den Beinen halten konnte. Er hatte es schon zweimal versucht, war aber jedesmal zusammengebrochen.
So zog er jetzt die Beine an, stieß sie vor und rutschte mit den Bewegungen eines Froschs weiter.
Er wollte zu ihr. Er schaute sie an. Lucy sah, wie er nach jeder schwerfälligen Bewegung den Kopf hob, um mit toten Augen gegen den Maschendraht zu schauen, der von seinen schwachen Kräften nicht zur Seite gebogen werden konnte.
Aber er versuchte es. Er würde nie aufgeben. Etwas lockte ihn immer, diesmal war es das Licht, und später würde es das Blut sein, das stand fest.
Lucy ließ sie kommen.
Sie amüsierte sich über ihre Bemühungen und ergötzte sich an der Schwäche ihrer Artgenossen. Sie fand es sogar gut, daß sie so schwach waren, um so ausgehungerter würden sie später sein, wenn sie die Trennung gelöst hatte, damit sich die Blutsauger im freien und auch in dem naheliegenden Ort Llanfair ausbreiten konnten.
Dort würden sie genügend Kraft tanken können. Und von dort würde der Keim auch weiter und tiefer in das Land hineingetragen werden, andere Menschen erfassen und sie in den Kreislauf des Bösen hineinziehen.
Das alles würde passieren, und sie stellte sich schon jetzt die Welt der Blutsauger vor unter der besonderen Schirmherrschaft des Vampir-Phantoms, ihrem Beschützer, ihrem Mentor, den sie vor mehr als hundert Jahren gerettet hatte. Nun zeigte er sich ihr gegenüber erkenntlich. In der folgenden Nacht würde die Welt nicht mehr so sein, wie sie jetzt noch war.
Lucy
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