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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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Drohung huschte das Kind hastig wie ein Eichhörnchen ins Dunkel zurück.
    »Seht ihr, wie sie gehorcht?« Der Versicherungsdirektor richtete die Serviette um seinen Hals. »Weil sie weiß, Papa ist der Chef. Und warum weiß sie das?«
    »Weil sie gut erzogen ist«, platzten seine Frau und seine Schwester gleichzeitig heraus. Dann sahen sie sich an und kicherten verlegen.
    »Es gibt keinen Grund, sich darüber lustig zu machen.« Klemper drohte ihnen mit dem Finger und lief rot an. Er hasste es offenbar, wenn man über ihn lachte, und riss sich jetzt die Serviette vom Hals. »Hätte ich so etwas gemacht, hätte mein Vater mich verprügelt, bis mein Hintern gequalmt hätte.« Seine Augen blitzten anklagend. »Und glaubt ja nicht, dass mir das geschadet hat.«
    Aufgescheucht von seiner hitzigen Stimme versuchte Frau Klemper, seine Temperatur ein wenig zu senken. »Du hast vollkommen recht, Felix.« Sie sah sich um und bat die anderen, auch ein bisschen kaltes Wasser aufs Feuer zu gießen.
    Aber es war bereits zu spät. Klemper kochte über.
    »Erst neulich nachmittags«, er verdrehte die Augen, »in der Tram, der 41, saß ein Kind neben mir und aß eines dieser ekelhaften Puddingteilchen.« Seine weißlich angelaufenen Lippen begannen zu zittern. »Natürlich ist der ganze Pudding auf meine Hosenbeine getropft. Und was hat die Mutter getan? Jedenfalls hat sie mir nicht angeboten, die Reinigungskosten zu übernehmen, das kann ich euch versichern.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich musste mich wirklich zusammenreißen, um sie mir nicht beide zu greifen und ihnen den Hals umzudrehen.«
    Kraus blickte zur Seite. Er hatte all das schon oft gehört ... und zwar jedes Mal, wenn Klemper da war. Dass Kinder sich schämen sollten. Dass sie Angst vor Autorität haben sollten. Dass ihnen jegliche Unabhängigkeit ausgetrieben werden musste. Und das alles nur zu ihrem Besten. Martin Luther hatte die berühmten Worte gesprochen, dass er lieber einen toten als einen ungehorsamen Sohn hätte. In dieser Hinsicht, dachte Kraus, unterscheiden sich jüdische Deutsche vielleicht gar nicht so sehr von vielen ihrer protestantischen Nachbarn.
    Er konnte sich noch daran erinnern, wie er einmal – er musste neun oder zehn Jahre alt gewesen sein – weggelaufen war, um sich den Eiffelturm anzusehen. Er hatte sein Taschengeld gespart und eine Zugfahrkarte gekauft. Er hatte es fast bis zur französischen Grenze geschafft, wo ein Schaffner ihn schließlich erwischt und ihn dann zurück nach Berlin gezerrt hatte. »Du wirst dein blaues Wunder erleben, wenn du nach Hause kommst«, hatte er ihm die ganze Zeit über gedroht. »Ich bin auch mal weggelaufen, als ich ein Kind war, und ich kann es immer noch fühlen.« Am Bahnhof Zoo hatten Kraus’ Eltern auf ihn gewartet und ihn mit ihren Küssen beinahe erstickt. Der Schaffner hatte vollkommen verdattert daneben gestanden.
    Kraus versteifte sich, als er sich an etwas nicht so weit Zurückliegendes erinnerte.
    An die Bibliotheksmitteilung wegen der markierten Bibelpassage.
    Wie ironisch. Bevor er heute Feierabend gemacht hatte, hatte er noch eine Antwort auf seine Nachfrage erhalten. Kinder des Zorns, wurde darin erklärt, war ein Begriff, den man mit einer unbedeutenden theologischen Doktrin assoziierte, die als »völlige Verderbtheit« bekannt war. In seinem Brief an die Epheser beschrieb der Apostel Paulus die Ungetauften als Wesen, die von ihrer Natur her »Kinder des Zorns« wären. Die Fanatiker in etlichen protestantischen Glaubensgemeinschaften zitierten diesen Satz als Beweis der Erbsünde: dass alle Menschen schon bei der Geburt das Böse in sich trügen, unfähig, Erlösung zu finden außer durch Gottes Gnade. Diese Fanatiker glaubten, so fuhr die Bibliotheksmitteilung fort, dass die betreffende Passage die bittere Wahrheit betonte, dass Kinder, die ungetauft starben, auf alle Ewigkeit verloren wären; eben deshalb, weil Säuglinge völlig verderbt geboren wurden. In der Bibel jedoch, hieß es in der Mitteilung weiter, war so eine Idee niemals angesprochen worden. Völlige Verderbtheit war ein strikt menschliches Dogma. Was vermutlich ganz gut ist, dachte Kraus.
    Obwohl das ja jetzt alles keine Rolle mehr spielte. Er sank auf seinem Stuhl zurück.
    Es war schließlich nicht länger sein Fall.
    »Mutter ...!« Der ohrenbetäubende Schrei drang auf den Balkon. »Die Kleinen!«
    Alle stürzten hinein.
    Sie drängten sich um das Aquarium; es war nicht zu übersehen, dass alle

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