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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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nicht kämpfen wollen, verdienen es nicht, zu leben.«
    Er schlug sich mit der Faust gegen die Brust und legte sie dann auf seine Kehle.
    »Der Nationalsozialismus ist Deutschlands Zukunft. Um uns herum marschiert Deutschland! In uns marschiert Deutschland! Und hinter uns marschiert Deutschland!«
    Das gesamte Publikum war wieder aufgesprungen und brüllte. »Heil! Heil! Heil! Heil!«
    Kraus registrierte, dass Hitler geradewegs auf das zentrale Nervensystem gezielt hatte, das von Hessler soeben zu entziffern versuchte. Er stimulierte eine Leidenschaft in seinen Zuhörern, eine Leidenschaft, von der sie nicht einmal gewusst hatten, dass sie dazu fähig waren. Gebeugte alte Frauen, einarmige Veteranen, Hausfrauen und Bürger ... Sie alle starrten Hitler mit tränennassen Augen an, wie frisch Verheiratete auf ihrer Hochzeitsreise. Wie kleine Kinder ihren Papa. Der Führer würde sie aufrichten. Er würde sie erheben und wieder stark machen. Er würde dafür sorgen, dass es ihnen wieder gut ging.
    »Unsere Feinde halten uns für Dreck, auf dem man herumtrampeln kann!« Hitler streckte beide Hände aus und schien jemanden direkt vor sich zu würgen. »Aber wir sind das größte Volk auf der Welt! Wir werden unseren Platz an der Sonne bekommen!« Er legte die Finger an seine Brust und riss daran, so als wollte er sich den Brustkorb aufreißen und den Zuhörern sein bloßes Herz hinhalten.
    »Ich werde euch dorthin führen. Das schwöre ich bei Gott!«
    Er verdrehte die Augen, und Schaum troff aus seinen Mundwinkeln.
    Kraus fuhr entsetzt zurück. Man konnte Hitlers magnetische Ausstrahlung nicht leugnen seine Ideen enthielten sogar gewisse Wahrheiten. Aber der Mann war eindeutig wahnsinnig. Dies hier war keine politische Versammlung, sondern blanke Massenhysterie. Selbst Frau Klopstock liefen unter ihrer Drahtkrone Tränen die Wangen hinab, und die Nadeln des EEGs drohten fast vom Papier zu hüpfen.
    »Fantastisch, hab ich recht?«, rief von Hessler. Diesmal meinte er offenkundig nicht nur seine Testergebnisse, sondern auch den Naziführer. »Das hier bestätigt vollkommen die Theorie von der Freisetzung von Energie: die Befreiung von Hitze und Kraft in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Physik. Der Prozess, der Zellen befähigt, sich zu erneuern, so wie sich auch eine Nation regenerieren muss!«
    Kraus wollte nur noch eins: diesem Wahnsinn entkommen.
    Aber wenigstens hatte er jetzt den Reiz begriffen, den diese Nazi-Bewegung für eine gestörte Seele wie die der Hirtin besaß. Ordnung. Ausrichtung. Ein Ort, an dem sie sich verlieren konnte. Ein Idol, das sie verehren konnte.
    Er konnte sie praktisch da draußen mitten in dem kreischenden Mob spüren.
    Und sobald er sie gefunden hatte, würde er auch den Kinderfresser finden.

NEUNZEHN

    »Wie sieht’s aus, Kraus?«, schrien die Reporter, die sich vor dem Eingang des Polizeipräsidiums drängten, als er herauskam. Es war fast achtzehn Uhr, aber immer noch brannte die Sonne glühend heiß auf den Alex herunter. Die Glaskuppel auf dem Kaufhaus Tietz schimmerte wie eine Luftspiegelung. Kraus fiel auf, wie feucht die Gesichter der Reporter von Schweiß und Anspannung waren. Wie er sich nach dem Tag sehnte, an dem er hier heraustreten und ihnen endlich sagen konnte, was sie und die ganze Stadt so sehnlichst hören wollten!
    »Heute gibt es nichts Neues, Leute«, erklärte er stattdessen. »Ihr wisst, dass ich euch sofort informiere, wenn ich etwas habe.«
    »Wir dachten, die Waisenhäuser würden bewacht!«, schrie Wörner von der Abendzeitung, als Kraus sich gerade abwenden wollte. »Wie viele Kinder müssen denn noch sterben, Kraus?«
    Der Kriminalsekretär ignorierte ihn und ging weiter. Aber die Frage traf ihn wie ein Geschoss. Als würde er sich das nicht selbst jede Stunde des Tages fragen! Jedes weitere entführte Kind war die reine Folter für ihn. Er konnte sich schon die Schlagzeilen auf den Zeitungen am Kiosk um die Ecke ausmalen: ZWEI WEITERE KINDER AUS WAISENHAUS TREPTOW VERSCHWUNDEN. Es war widerlich. Er mochte dem Mörder dichter auf der Spur sein, als Freksa ihm je gekommen war, und er wusste auch, nach wem er suchte. Doch in seinem Beruf war so etwas wie dicht auf der Spur einfach nur ein Haufen Mist.
    »Tut mir leid.« Wörner lief an ihm vorbei und sprang auf die Plattform einer vorbeifahrenden Tram. »Ist nichts Persönliches, Willi, das wissen Sie. Sie sind der beste Mann, den die Mordkommission hat. Aber Beruf ist nun mal Beruf.«
    »Ja, klar.« Kraus

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