Stachel der Erinnerung
1
England 1798
»Laßt
mich in Ruhe,
verdammter Schnösel!«
»Du kleine,
unverschämte Göre – wie oft habe ich dich schon gewarnt? Jetzt wirst du das
bekommen, was du verdient hast!« Der frisch ernannte Leutnant zur See, Matthew
Seaton, biß wütend die Zähne zusammen. Gerade erst war er aus der Tür seines
Landsitzes, des Herrenhauses von Seaton, getreten, in seiner brandneuen,
fleckenlos reinen Uniform. Und jetzt war seine enganliegende weiße Hose voller
klebrigem Schmutz. Ein halbverfaulter Apfel hatte einen häßlichen, feuchten
Streifen auf dem Kragen seiner dunkelblauen Jacke hinterlassen. Dieser
schmächtige, zierliche Teufel hatte das absichtlich getan!
Er ging
drohend auf sie zu. »Ich habe genug von dir, Jessie Fox. In den letzten beiden
Jahren hast du mich geplagt, wo du nur konntest. Du hast mich bestohlen, hast
mich beschimpft – und jetzt hast du meine neue Uniform ruiniert. Es wird Zeit,
daß jemand dir endlich Manieren beibringt, und es sieht ganz so aus, als würde
ich derjenige sein, der dazu auserwählt ist.«
»Ihr werdet
mich niemals fangen, Ihr seid eine tolpatschige, schmierige Kröte.« Jessie wich
zwei Schritte zurück bei jedem Schritt, den Matt in ihre Richtung machte. »Ich
bin schlauer, und ich bin schneller.« In ihrer dreckigen, zerlumpten Hose und
dem zerrissenen Hemd, das schmutzige blonde Haar unter einer
mottenzerfressenen grauen Wollkappe versteckt, sah sie eher wie ein Junge und
nicht wie ein zwölfjähriges Mädchen aus. Sie warf einen weiteren verfaulten
Apfel nach Matthew. Er verfehlte sein Ziel nur um Zentimeter. Eine neue Welle
von Wut schwappte in ihm hoch.
»Du kleines
Luder, du bist die Plage von Bucklers Haven. Du bist eine Taschendiebin und
eine Räuberin – das Verderben jedes Reisenden, der durch das Dorf kommt. Eines
schönen Tages wirst du im Gefängnis von Newgate landen.«
»Geht,
verdammt, zur Hölle!« schrie Jessie, als er nach ihr griff. Sie wirbelte herum
und rannte weg. Sie tänzelte nach links, täuschte dann einen Haken nach rechts
vor und entwischte seinem Griff. Matthew fluchte.
»Ein
verdammter Stutzer, das seid Ihr«, stichelte Jessie unverdrossen. »So fein
gekleidet und so sauber und elegant. Aber nur, weil Ihr ein verdammter Graf
seid, heißt das noch lange nicht, daß Ihr auch etwas Besonderes seid.«
Matt zog
die dunkelblonden Augenbrauen zusammen und warf ihr einen wütenden Blick zu.
»Ich kann nicht glauben, daß du ein Mädchen bist. Du redest schlimmer als ein
verkommener Seemann.« Er griff noch einmal nach ihr, doch Jessie lachte nur.
Sie wandte sich um und lief auf einen knorrigen alten Apfelbaum zu. Eine
weiße, schmiedeeiserne Bank stand darunter. Jessie kletterte an dem Stamm des
Baumes hoch, ihre dünnen Beine klammerten sich darum und brachten sie in die Sicherheit
der starken Äste.
Wäre
Matthew nicht so groß gewesen, er hätte es nicht geschafft.
Nun
lächelte er zufrieden, als sich seine Hand um das schmale Fußgelenk des
Mädchens schloß. Als er kräftig daran zog, verlor sie den Halt. Sie quietschte
entsetzt auf und fiel herunter. Matthew fing sie auf, ehe sie auf dem Boden
aufschlug.
»Laßt mich
los, Ihr verfluchter Bastard!«
Matthew
legte beide Hände auf ihre Schultern und schüttelte sie – so fest er konnte.
»Du solltest besser lernen, dich zu benehmen, du kleiner Satan!« Als er sie
noch einmal schüttelte, fiel ihr die Kappe vom Kopf, doch Jessie ließ sich so
schnell nicht einschüchtern. Noch ehe er wußte, was sie vorhatte, hatte sie die
Hand ausgestreckt, griff nach einem der glänzenden goldenen Knöpfe seiner
Jacke und riß ihn ab. Es gab ein häßliches ratschendes Geräusch, als der
leuchtendblaue Stoff zerriß.
Seine
gesamte Haltung signalisierte die Wut, die in ihm loderte. Trotz des
erschrockenen Ausdrucks auf Jessies Gesicht zog Matthew sie zu der
schmiedeeisernen Bank vor dem Apfelbaum. »Das hast du schon lang verdient,
Jessie Fox, und jetzt wirst du es auch bekommen.« Er achtete nicht auf ihre
wilden Protestschreie, sondern zerrte sie auf seinen Schoß. »Ich habe dich
gewarnt«, erklärte er. »Und verdammt, ich fühle mich nicht im mindesten
schuldig.«
Jessie
schrie auf, als seine Hand hart auf ihr kleines Hinterteil niedersauste. Die
verschlissene graue Hose bot nur wenig Schutz gegen seine kräftigen Hände.
»Verdammter
Dreckskerl!« brüllte sie.
Zwei, drei,
vier.
»Verdammter,
widerlicher, aufgeblasener Stutzer!«
Fünf,
sechs, sieben. Jedes andere Kind hätte ihn
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