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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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ihr Feuer.
    In seiner braunen Uniform, den hohen, schwarzen Stiefeln und dem dicken Lederriemen über der Brust baute sich der Führer vor den sehnsüchtigen Massen auf und sagte ... nichts. Eine, wie es schien, Ewigkeit lang sah er sich im Saal um, hielt den rechten Arm mit der linken Hand fest, dann umgekehrt, und verschränkte schließlich beide Arme vor seiner Brust. Die Zuhörer wurden immer stiller, wie schuldbewusst, als wäre es ihr Fehler, dass er nicht beginnen konnte. Dann jedoch schien sich der Führer an etwas zu erinnern, trat dichter ans Pult und überflog seine Notizen, als suchte er nach einem entscheidenden Punkt. Doch Kraus sah, dass er keineswegs las, was da stand. Von seinem erhöhten Standort aus konnte Kraus jede Bewegung Hitlers deutlich erkennen. Sie waren alle einstudiert, und zwar ganz offensichtlich mit der Absicht, das Publikum zu manipulieren. Je länger der Mann sich weigerte zu sprechen, desto eindringlicher gierte die Menge nach seinen Worten. Frau Klopstocks Gehirnwellen, die auf dem Papier aufgezeichnet wurden, illustrierten das grafisch.
    »Außerordentlich, hab ich recht?« Von Hesslers Augenklappe schien Begeisterung auszustrahlen, nicht für den Sprecher natürlich, sondern für das Galvanometer. »Es ist Ihnen vielleicht nicht klar, meine Herren, aber was Sie hier sehen, ist die perfekte Illustration eines inneren Zustandes. Auf dieser Papierrolle findet sich eine präzise Aufzeichnung der Nervenstimulationen. Frau Klopstock mag stillsitzen, aber ihre peripheren Nerven wandeln wie verrückt Energie um und schicken sie in das zentrale Nervensystem. Aus der Bewegung dieser Stifte kann ich mit ziemlicher Sicherheit schließen, dass Frau Klopstock Herrn Hitler weit aufregender findet, als sie erwartet hat. Habe ich recht?«
    »Allerdings.« Frau Klopstock konnte kaum ihren Blick von dem Podium losreißen.
    Hitler sah sich um und hüstelte in seine Faust. Mit derselben Hand strich er sich dann glättend das in die Stirn gekämmte Haar und hustete noch einmal. Schließlich krächzte er, fast unhörbar: »Menschen von Berlin ...«
    Die ganze Arena schien auf die Füße zu springen. »Heil! Heil! Heil! Heil!«
    Es dauerte ein paar Minuten, bis sich alle wieder beruhigt hatten, so dass Hitler fortfahren konnte. Als er dann sprach, war seine Stimme so leise, dass sich die Zuhörer unwillkürlich fast vorbeugten, um sie besser verstehen zu können.
    »Der Erfolg«, flüsterte er, »ist alleiniger Richter über Richtig und Falsch. Wir brauchen dafür nur auf die Straßen unserer Hauptstadt zu blicken.« Beinahe unmerklich wurde seine Stimme lauter. »Auf die Millionen ohne Arbeit. Ohne Würde. Ohne Hoffnung.« Allmählich schien jede einzelne Silbe an Lautstärke zuzunehmen. »Um zu begreifen, in welche Hölle diese Republik uns gestürzt hat.«
    Dann donnerten seine Worte förmlich aus den Lautsprechern.
    »Nicht persönliche Bereicherung, sondern das Gemeinwohl muss das vorrangige Streben derer sein, die Deutschland führen. Die Tage der individuellen Glückseligkeit sind vorbei. Der Untergang dieser Nation kann nur durch einen Sturm der Leidenschaft abgewendet werden. Und zwar von jenen, die selbst leidenschaftlich sind und diese Leidenschaft auch in anderen erwecken können!«
    Kraus’ Mund war trocken. Er fühlte sich von diesen Worten seltsam berührt, war sich ihres zwingenden Appells bewusst und stimmte ihm sogar in einem gewissen Maße zu. Es war keineswegs übertrieben, zu behaupten, dass die Republik an den Nähten ausfranste, dass die Regierung paralysiert war und die ökonomische Krise kein Ende zu nehmen schien. Vielleicht hätte man jemanden mit dem Charisma eines Bismarcks benötigt, um das alles zusammenzuhalten und die Nation wieder zu Wohlstand und Selbstachtung zurückzuführen. Hitlers Stimme war so schrill geworden, so barsch und so aggressiv, dass sie Kraus in den Ohren schmerzte.
    »Es darf keine Schichten oder Klassen mehr geben!« Der Sprecher stach mit dem Finger wütend in die Luft. »Alle Deutschen sind ein Volk! Und es genügt nicht, nur zu nicken. Die Zeit ist gekommen, zu kämpfen!«
    Er wandte sich an die uniformierten Reihen zu seinen Füßen.
    »Ihr, meine geliebte Jugend ... denkt immer daran: Die Menschheit überlebt nicht durch die Prinzipien der Humanität, sondern nur durch gnadenlosen Kampf. Ihr müsst euch stählen. Das Schwache muss ausgemerzt werden. Ihr seid Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem Blut. All jene, die in dieser Welt

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