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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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hinter der die Gerechtigkeit – die Mutter – verschwindet, ohne daß du ihr folgen, Reue äußern oder Verzeihung erlangen kannst.
    Damit wäre die letzte Lücke, die Anordnung der Zimmer in der GEWOBA-Wohnung betreffend, geschlossen: Das Schlafzimmer der Eltern, an das sich keine Erinnerung wecken läßt, ist vom Wohnzimmer aus zu erreichen, durch eben jene Tür, hinter der die Mutter sich hastig für die Fahrt ins Krankenhaus fertigmacht und neben der nun auch die Glasvitrine mit den leise klirrenden Sammeltassen auftaucht. Das Gedächtnis, wehrlos, wenn man seinen wunden Punkt getroffen hat, liefert das ganze Wohnzimmer aus, Stück für Stück: schwarzes Büfett, Blumenständer, Anrichte, hochlehnige schwarze Stühle, Eßtisch und gelbseidene Lampe darüber – unnötiger Aufwand für ein Kind, das nur den einen Stuhl brauchte, um einen Nachmittag lang darauf zu sitzen und zu beten, des Bruders Arm möge nicht steif bleiben, da es nicht ertragen könnte, sein Lebtag lang schuldig zu sein.
    Doch folgenlose Schuld ist keine Schuld.
    Am gleichen Abend noch soll Nelly Tränen lachen.Die erleichterte, gutgelaunte Mutter ahmt die Redeweise des jungen Krankenhausarztes nach, der mit zwei, drei geübten Griffen des Bruders Arm eingerenkt und sie, Charlotte Jordan, fortwährend mit »gnädige Frau« angeredet hat. An Ihnen ist wirklich eine Krankenschwester verlorengegangen, gnädige Frau. Ein wilder Bengel, der Herr Sohn. Kein Wort von der Urheberin der Verrenkung. Nelly ist mit der Gnade der Eltern allein. Für die Angst, die sie ausgestanden hat, belohnt man sie mit Kakao und Eierbrötchen, während Lutz, das abwesende Opfer, zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben muß. Gelernt soll werden: Sich freuen an falschem Lob. Die Lehre wird angenommen.
    Hier, unter den drei Akazien, hat Anneliese Waldin, des Oberwachtmeisters Waldin älteste Tochter, Nelly gönnerhaft ihr erstes Lied in englischer Sprache beigebracht, das du zu Lenkas Erstaunen noch immer auswendig kannst und in kindlichem Ton mit falscher Aussprache vorsingst: Baba bläck schiep, häw ju änni wuhl, jes, master, jes, master, srie bäcks fuhl.
    Das Lied geht noch weiter. Weiß Lutz eigentlich, daß die Mutter sich immer danach gesehnt hat, Ärztin zu werden? Oder wenigstens Hebamme? Er weiß es, sie hat es bis in ihre letzten Jahre wiederholt: Irgendwas Medizinisches, das wär mein Fall gewesen, und ich freß einen Besen drauf, daß ich mich dazu geeignet hätte. – Sie hätte sich geeignet, da wart ihr euch immer einig. Der Vater natürlich verwies ihr die Sehnsucht: Daß du nie zufrieden sein kannst. – So mach’s doch! hat keiner von euch gesagt. Kinder wollen nicht, daß ihre Mutter ihr Leben ändert. 45, da wäre vielleicht eine Gelegenheit gewesen. 45 hätten sie auch eine nicht mehr jungeFrau zur Hebamme ausgebildet. Auf dem Dorf? sagt Lutz. – Das ist es eben.
    Unter den drei Akazien ist Nelly zum erstenmal verraten worden, und zwar, wie es sein muß, von ihrem besten Freund Helmut, dem jüngsten Sohn des Polizeioberwachtmeisters Waldin, Sonnenplatz 5, erster Stock rechts. Das Thema »Freundschaft und Verrat« interessiert auch Lenka, sie hat Fragen, durch die sie sich bloßstellt. Seit Wochen läßt ihre Freundin Tina sich nicht mehr blicken, meidet Lenka alle Anlässe, sie zu treffen, aber besorgt bist du erst, seit sie nicht mehr zum Reiten geht, da sie doch Pferde mehr liebt als alles. Daß sie direkte Fragen niemals beantworten wird, wenn sie es nicht will, hast du lernen müssen und hoffst nun heimlich, auf dem Umweg über Nelly etwas über Lenka zu erfahren.
    Der Verräter, wenn es ein Kind ist, braucht diejenigen, die ihn zum Verrat anstiften. Ja, sagt Lenka. Die haben nichts davon als vielleicht einen Spaß für zehn Minuten, das ist rätselhaft, nicht wahr. Lenka schweigt. Im Falle von Helmut Waldin waren es seine drei großen Brüder. Wozu hätten die – wenn es mehr war als Spaß – den Beweis gebraucht, daß der Mensch niederträchtig ist?
    Es fing ganz harmlos an. Franz warf den Stein, der zufällig den kleinen Bruder traf, ebensogut aber Nelly hätte treffen können, die dicht neben Helmut auf der karierten Decke hockte, mit ihren Puppen, denn sie spielten hier immer Vater Mutter Kind. Als Helmut aufschrie und, genötigt von seinen Brüdern, den Grund für seinen Schrei nennen mußte, waren die maßlos verblüfft: Ein Stein! Von ihnen hatte ja keiner einen Steinnach dem kleinen Bruder geschmissen. Wenn der aber doch an der

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