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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Schlange, Kröte, Käfer, Hexe, Schwein, Molch, Lurch. Niemals höhere Lebewesen, immer Ungetier, das in Schmutz und Schlamm lebt und einander rücksichtslos bekämpft. Zerkratzt und dreckig kamen sie abends nach Hause, ertrugen Vorhaltungen und Verbote. Auch die Eltern des Froschkönigs hatten erleben müssen, wie ihr feiner blondhaariger Prinzensohn sich mir nichts, dir nichts – und ganz gewiß nicht ohne seine heimliche Zustimmung – vor ihren Augen in einen glitschigen eklen Frosch verwandelt hatte. Das gab es eben.
    Lenka begrüßt euer Auto, das euch vor Rambows ehemaligem Laden erwartet, mit einem dankbaren Blick. Als Nelly vor sechsundzwanzig Jahren und sechs Monaten, am 29. Januar 1945, auf der gleichen Straße ihre Stadt auf der Flucht vor den näher rückenden feindlichen Truppen schnurstracks in westlicher Richtung verließ, hat sie, soviel du weißt, im Vorbeifahren nicht einen Gedanken an den Sonnenplatz und an jenes Kind gewendet, das damals unter der dünneren Schicht vonJahresringen vielleicht tiefer verborgen war als heute, da es sich, unabhängig von gewissen Anweisungen, zu regen beginnt. Zu welchem Ende? Die Frage ist so unheimlich wie berechtigt. (Laßt die Toten ihre Toten begraben!) Ein Gefühl, das jeden Lebenden ergreift, wenn die Erde unter seinen Füßen sich bewegt: Furcht.

2
    Wer gäbe nicht viel um eine glückliche Kindheit?
    Wer Hand an seine Kindheit legt, sollte nicht hoffen, zügig voranzukommen. Vergebens wird er nach einer Dienststelle suchen, die ihm die ersehnte Genehmigung gäbe zu einem Unterfangen, gegen das der grenzüberschreitende Reiseverkehr – nur als Beispiel – harmlos ist. Das Schuldgefühl, das Handlungen wider die Natur begleitet, ist ihm sicher: Natürlich ist es, daß Kinder ihren Eltern zeitlebens dankbar sind für die glückliche Kindheit, die sie ihnen bereitet haben, und daß sie nicht daran tippen. – Danken? Die Sprache verhält sich, wie erwartet, und läßt »denken«, »gedenken«, »danken« aus ein und derselben Wurzel kommen. So daß nachforschendes Gedenken und das dabei unvermeidlich entstehende Gefühl – für das eine Benennung allerdings zu suchen wäre – im Notfall doch auch als »Äußerung dankbarer Gesinnung« gelten können. Nur eben fehlt wieder ausgerechnet jene Instanz, die den Notfall bescheinigen würde.
    Über die Handlungsweise von Nellys Mutter im Januar 1945, bei der »Flucht«, in letzter Minute nicht das Haus, wohl aber die Kinder im Stich zu lassen, hast du natürlich oft nachdenken müssen. Fragen muß man sich, ob sich wirklich in derartig extremen Lagen zwangsläufig und zwingend herausstellt, was einem das Wichtigste ist: durch das, was man tut. Wenn aber der Betreffende nicht vollzählig die Informationen hätte, die ihm erlaubten, seine Entscheidung genau den Umständen anzupassen? Wenn Charlotte Jordan nicht erst nachder Abfahrt des Lastwagens, auf dem nicht nur ihre Kinder, sondern auch die übrige Verwandtschaft die Stadt verließen, die Gewißheit gehabt hätte: Ja, der Feind hat sich auf Kilometer der Stadt genähert; ja, die Garnison rückt im Eilmarsch ab, in Richtung Westen: Wäre sie nicht die erste gewesen, ihre Kinder selbst in Sicherheit zu bringen? Ferner: Hätte sie, Charlotte, es auch nur im entferntesten für möglich gehalten, daß sie ihr Haus nicht mehr betreten, kein Stück seines Inventars je wiedersehen würde – hätte sie dann nicht das dicke braune Familienalbum eingepackt, an Stelle des ganzen Plunders, den sie doch nach und nach aufgaben, abstießen, verloren, bis Nelly an einem schönen Sommermorgen nur noch Schlafanzug und Mantel besaß, die sie natürlich beide am Leibe trug? Um vier Uhr nachmittags die ersten Schüsse vom Stadtrand her (Städtisches Krankenhaus), da ist das Führerbild aus dem Herrenzimmer schon im Zentralheizungsofen verbrannt (das hat mir wohlgetan, sag ich euch), da ist schon entschieden, daß sie, Charlotte, mit nichts als einer Einkaufstasche, in der ein paar gut belegte Brote, eine Thermosflasche mit heißem Kaffee, einige Päckchen Zigaretten (zu Bestechungszwecken) und eine dicke Brieftasche mit Papieren sind, ihr Haus abschließen und weggehen wird. Das braune Album muß entweder bei den Plünderungen verlorengegangen sein, welche die ehemaligen Nachbarn natürlich in den verlassenen Häusern und Wohnungen unternahmen (und zuallererst verständlicherweise in einem Lebensmittelladen), oder es wurde von den späteren polnischen Bewohnern des Hauses verbrannt.

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