Kindheitsmuster
betreten darf.
Nicht daß es an Aufforderungen dazu gefehlt hätte. Nelly hätte an der Seite ihres Vaters, der sie, anders als die Mutter, gerne beizeiten in die »Usancen« des praktischen Lebens einführte, sonntagvormittags, wenner mit seinem dicken schwarzen Kontobuch Schulden eintreiben ging, in jeden der übelriechenden Hausflure und in jeden beliebigen feuerbohnenbewachsenen Hof eintreten können. Aber aus übertriebenem Schamgefühl, das sie, wie alle Jordans fanden, von ihrer Mutter hatte, weigerte sie sich glatt, den Vater auf diesen Gängen zu begleiten; wie sie auch dem Ansinnen, bei Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten und Beerdigungen im Kundenkreis Blumentöpfe und Gratulations- beziehungsweise Beileidskarten auszutragen, dickköpfig Widerstand entgegensetzte.
Gedächtnis. Im heutigen Sinn: »Bewahren des früher Erfahrenen und die Fähigkeit dazu.« Kein Organ also, sondern eine Tätigkeit und die Voraussetzung, sie auszuüben, in einem Wort. Ein ungeübtes Gedächtnis geht verloren, ist nicht mehr vorhanden, löst sich in nichts auf, eine alarmierende Vorstellung. Zu entwickeln wäre also die Fähigkeit des Bewahrens, des Sich-Erinnerns. Vor deinem inneren Auge erscheinen Geisterarme, die in einem trüben Nebel herumtasten, zufällig. Du besitzt die Methode nicht, systematisch durch alle Schichten durchzudringen bis zum Grund. Energie wird verpulvert, ohne einen anderen Erfolg als den, daß du müde wirst und dich am hellerlichten Vormittag schlafen legst.
Da kommt deine Mutter und setzt sich, obwohl sie ja tot ist, zu euch allen in das große Zimmer, ein insgeheim erwünschter Vorgang. Die ganze Familie ist versammelt, Lebende und Tote. Du bist die einzige, die die einen von den anderen unterscheiden kann, mußt aber selber in die Küche gehen, den großen Abwasch machen. Die Sonne scheint herein, aber du bist traurigund verschließt die Tür, damit niemand kommen und dir helfen kann.
Plötzlich ein Schreck bis in die Haarspitzen: Auf dem Tisch im großen Zimmer das Manuskript, auf dessen erster Seite in großen Buchstaben nur das Wort »Mutter« steht. Sie wird es lesen, wird deinen Plan vollständig erraten und sich verletzt fühlen ...
(Damit beginnen, riet H. Du weigertest dich. Mag sich ausliefern, wer will. Es war der Januar 1971. Du gingst in alle Sitzungen, Beiräte, Präsidien und Vorstände, die sich in jedem neuen Jahr zu fieberhafter Tätigkeit getrieben fühlen. Der Staub auf dem Schreibtisch blieb liegen, natürlich kam es zu Vorwürfen, die du nur zurückweisen konntest: mit dem Hinweis auf unabweisbare Verpflichtungen.)
Der Sonnenplatz ist, soviel du weißt, in deinen Träumen niemals vorgekommen. Nie hast du im Traum vor diesem Eckhaus Nummer 5 gestanden, das heute, sachlich den Tatsachen Rechnung tragend, diese seine Nummer zweimal bekanntgibt: durch die altbekannte, verwitterte, mit Zement an die Hauswand gespritzte 5 und gleich daneben durch das neue weiße Emailleschild mit derselben Zahl in Schwarz. Nie hast du von den roten Geranien geträumt, die heute wie damals vor fast allen Fenstern blühen oder blühten. Ungewohnt nur die weißen Sonnenlaken hinter den Scheiben. Charlotte Jordan hatte für ihr Wohnzimmerfenster die modernen Gitterstores angeschafft. Keine Erinnerung an die Gardine des Elternschlafzimmers. Im Kinderzimmer hing jener blau-gelb gestreifte Vorhang, der das Morgenlicht so filterte, daß Nelly lustvoll erwachte. Wenn nicht, wie einmal in Nellys fünftem Lebensjahr, sich in ebendiesem Dämmerlicht ein Mörder in das Zimmer geschlichen hat, ein buckliges Männchen (»Will ich in mein Stüblein gehn, will mein Müslein essen, steht ein bucklig Männlein da, hat’s schon halber gessen«), sich über das Kopfende von Brüderchens Holzgitterbett beugt, ein blankes Messer in der Hand hält, dessen Spitze sich schon gegen das Herz des Bruders richtet und es durchbohren wird – es sei denn, Schwester Nelly höre in letzter Sekunde auf, sich schlafend zu stellen, fasse Mut (o mein Gott, sie tut es!) und schleiche sich unendlich langsam, unendlich vorsichtig hinter dem Rücken des Mörders hinaus in den Flur, alarmiere die Mutter, die im Unterrock, ungläubig, aus dem Badezimmer kommt und lachend mit einer Hand den Kleiderhaufen zusammenstukt, der sich auf der Stuhllehne an des Bruders Bett zu einem Kapuzenmännchen aufgetürmt hat. (Sollte das die erste Erinnerung an den Bruder sein?)
Nicht erzählt wird, daß die Mutter Nellys Wange tätschelt, sie halb
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