Kleine freie Männer
»Morgens Weh und abends Weh«, oder gar »Heute tut mir alles weh«. Wenn man so etwas zum dritten Mal hörte, klang es nicht mehr besonders komisch, aber Tiffany hätte den Witz vermisst, wenn sie die entsprechenden Worte von ihrem Vater eine Woche nicht gehört hätte. Es waren Vater- Witze; sie mussten nicht komisch sein. Und wie auch immer Tiffanys Vorfahren ihren Familiennamen geschrieben hatten: Sie waren geblieben und nicht fortgezogen, trotz aller... Wehwehchen.
In der Küche traf Tiffany niemanden an. Vermutlich war ihre Mutter zu den Schurpferchen gegangen, um den Männern, die in dieser Woche die Schafe schoren, das Mittagessen zu bringen. Tiffanys Schwestern Hannah und Fasti-dia waren ebenfalls dort, rollten Vliese und beobachteten einige der jüngeren Männer. Während der Schur waren sie immer besonders fleißig.
Neben dem großen schwarzen Herd stand das Regal, das Tiffanys Mutter noch immer »Omas Bibliothek« nannte - sie fand Gefallen an der Vorstellung, eine Bibliothek zu besitzen. Alle anderen nannten es »Omas Regal«.
Es war ein kleines Regal, und die Bücher standen eingezwängt zwischen einem Glas mit Ingwer und der Porzellanschäferin, die Tiffany im Alter von sechs Jahren auf dem Jahrmarkt gewonnen hatte.
Es waren nur fünf Bücher, ohne das große Farmtagebuch, das Tiffanys Ansicht nach nicht als richtiges Buch zählte, weil man es selbst schreiben musste. Dort stand das Wörterbuch und daneben der Almanach, der jedes Jahr gewechselt wurde. Dann folgte Schafskrankheiten, ein Buch mit zahlreichen Lesezeichen, die von Tiffanys Oma stammten.
Oma Weh war eine Schafexpertin gewesen, obwohl sie die Tiere »nur Bündel aus Knochen, Augen und Zähnen, die nach neuen Möglichkeiten des Sterbens suchen« genannt hatte. Andere Schäfer gingen meilenweit, um sie zu holen, damit sie ihre kranken Schafe behandelte. Sie behaupteten, Oma Weh hätte eine spezielle Gabe. Sie selbst meinte, die beste Medizin für Schafe oder Männer bestünde aus einer Dosis Terpentin, einem deftigen Schimpfwort und einem Tritt. Kleine Zettel mit Omas Rezepten für Schafheilmittel ragten überall aus dem Buch. Die meisten von ihnen beinhalteten Terpentin, einige auch Schimpfwörter.
Neben dem Schafbuch stand ein schmaler Band mit dem Titel Blumen der Kreide. Die Wiesen des Kreidelands waren voller kleiner Blumen, unter ihnen Schlüssel- und Glockenblumen, die das Grasen der Schafe irgendwie überstanden. Die Blumen der Kreide mussten zäh und schlau sein, um die Schafe und die Schneestürme im Winter zu überleben.
Jemand hatte vor langer Zeit die Bilder der Blumen koloriert. Auf dem Deckblatt des Buches stand mit sauberer Handschrift »Sarah Grizzel« geschrieben - das war Omas Name vor ihrer Heirat gewesen. Vielleicht hatte sie »Weh« für besser gehalten als »Grizzel«.
Und schließlich war da noch Mährchen für liehe Kinder, ein sehr altes Buch, das vermutlich aus den Anfängen der Rechtschreibung stammte.
Tiffany trat auf einen Stuhl, nahm es vom Regal und blätterte, bis sie fand, was sie suchte. Eine Zeit lang blickte sie darauf hinab. Dann stellte sie das Buch zurück, trug den Stuhl zum Tisch und öffnete den Geschirrschrank.
Sie nahm einen Suppenteller, ging zu einer Kommode und holte das Maßband hervor, das ihre Mutter beim Schneidern benutzte. Damit maß sie den Teller aus.
»Hmm«, sagte sie. »Acht Zoll. Warum haben sie es nicht einfach gesagt?«
Tiffany löste die größte Pfanne vom Haken, das Exemplar, mit dem man das Frühstück für sechs Personen braten konnte. Dann nahm sie Süßigkeiten aus dem Glas auf der Anrichte und füllte sie in eine alte Papiertüte. Anschließend, zu Willwolls mürrischer Verwunderung, griff sie nach der klebrigen Hand des Jungen und kehrte mit ihm zum Fluss zurück.
Dort wirkte noch immer alles völlig normal, aber davon ließ sie sich nicht täuschen. Alle Forellen waren geflohen, und die Vögel sangen nicht.
Sie fand eine Stelle am Ufer mit einem Busch in der richtigen Größe. Dort klopfte sie dicht am Wasser ein Stück Holz so fest wie möglich in den Boden und band die Tüte daran fest.
»Süßigkeiten, Willwoll!«, rief sie.
Tiffany schloss die Hand fest um den Griff der Pfanne und trat hinter den Busch.
Willwoll wackelte zu dem Pflock und wollte die Tüte hochheben, aber sie rührte sich nicht von der Stelle.
»Ich will zur Toh-lett!«, rief er, denn diese Drohung funktionierte normalerweise. Seine dicken Finger zerrten an den Knoten.
Tiffany
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