Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
1900 – 1908, Oberammergau, Bayern
»Fertig!«, sagte der Mann mit der blauen Schürze.
Vor ihm auf dem Boden lagen Holzspäne. Wie Gold schimmerten sie im Licht, das sich durch die Fensterscheiben und die staubige Luft zwängte. Auf der Werkbank neben dem Mann lagen unterschiedliche Messer. Große und kleine und seltsam gebogene, die aussahen wie der Sichelmond. Und in seiner zerfurchten Hand hielt der Mann mich , noch ganz nackt und glatt, mit feinstem Schmirgelpapier abgeschliffen.
»Wie ein Kinderpopo«, murmelte der Mann. Dann grinste er still vor sich hin, wie immer, wenn er mit seiner Arbeit zufrieden war.
Der Mann mit der blauen Schürze und dem langen gekräuselten Bart war ein Holzschnitzer, ein Meister seines Fachs, der Beste weit und breit. Er schnitzte alles, was man aus einem Stück Holz schnitzen konnte: Salatschüsseln, Kochlöffel, Kinderspielzeug, Toilettenpapierrollenhalter, Wäscheklammern,Kleiderbügel und was noch so alles im Haushalt gebraucht wurde und aus Holz war. Manchmal schnitzte er auch Gegenstände, die nicht nur zu gebrauchen, sondern obendrein schön anzusehen waren. Und manchmal schnitzte er Dinge wie mich, einen Nussknacker.
Ich war durch seine Kunst und unter seinen scharfen Messern in zwei Tagen und Nächten entstanden. Neunzehn Zentimeter hoch, mit Bart und dickem Bauch. Noch ohne Farbe im Gesicht und am Körper.
»Jetzt bist du an der Reihe!«, rief der Meister in den hinteren Teil seiner Werkstatt.
Sein Geselle, ein junger, schlaksiger Bursche mit einem dünnen Flaum auf der Oberlippe, ließ alles stehen und liegen und kam an die Werkbank des Meisters geeilt.
»Ein Prachtexemplar!«, sagte er bewundernd, als er mich in den Händen seines Meisters erblickte. »Jetzt fehlt nur noch ein bisschen Farbe, dann können wir stolz auf ihn sein.« Der Geselle wollte mit seinen langgliedrigen Fingern nach mir greifen.
»Stolz allein reicht nicht!«, brummte der Meister und gab dem Gesellen einen Klaps auf die Hand. So machte er es immer, wenn der ihm mal wieder zu ungeduldig erschien. »Stolz kann man sich nicht aufs Brot schmieren und essen. Wir müssen den Nussknacker verkaufen!«
Der Geselle nickte, senkte den Kopf und murmelte: »Ich weiß.«
Dann standen die beiden in ihren blauen Schürzen da, mit Blicken, die nichts Gutes verhießen, und dachten nach, bis der Meister schließlich mit brummiger Stimme sagte: »Und das ist in diesen Zeiten nicht einfach.«
Wieder nickte der Geselle schüchtern. Er wusste, was der Meister meinte. Überall sprach man von den schlechten Zeiten. Auch der Meister jammerte oft und redete davon, dass das Geld knapp sei, dass immer weniger verkauft werden könne und alles teurer werde.
Ganz in Gedanken packte er mich an den Beinen und sagte: »Da! An die Arbeit!«
So gelangte ich von den dicken Fingern des Meisters in die zarten Hände des Gesellen. Er trug mich zu sich in den hinteren Teil der Werkstatt und stellte mich auf der Werkbank ab, auf der zahlreiche Farbtuben und Pinselgläser standen.
»So, mein kleiner Nussknacker«, sagte der Geselle liebevoll. »Jetzt werde ich dir ein schönes Farbenkleid verpassen, so schön, dass jeder dich haben will!«
Er grinste, nahm Pinsel und Farbtuben und machte sich ans Werk. Er gab sich alle Mühe und malte mir ein blaues Gewand auf den Leib, schwarze Stiefel und rote Bäckchen. Ich glänzte am ganzen Körper und strahlte im Gesicht. Zuletzt malte er mir zwei schöne runde Augen, mit denen ich jetzt deutlich den Eiffelturm sehen konnte.
Den Eiffelturm ?, schoss es mir durch den Kopf. Was macht der Eiffelturm in Oberbayern? Der stand doch in Frankreich. Allerdings noch nicht lange. Er war erst seit ein paar Jahren das Wahrzeichen von Paris, der französischen Hauptstadt. Ich aber war in Oberammergau, mindestens tausend Kilometer weit weg. Und doch konnte ich diesen seltsamen Turm erkennen, stand sogar mit beiden Beinen darauf. Natürlich nicht wirklich, sondern auf einer Zeitung, in der ein Foto vom Eiffelturm war. Darüber stand: »Weltausstellung in Paris«.
Der Geselle kümmerte sich weder um die Weltausstellung noch um den Eiffelturm. Er zerknüllte die Zeitung und warf sie in den Mülleimer. Auch ich riss mich von meinen französischen Gedanken los und schenkte meine Aufmerksamkeit mir selbst. Du bist gut gelungen, sagte ich mir, als ich mein Spiegelbild in der Fensterscheibe erblickte. Ohne überheblich klingen zu wollen, kann ich mit Fug und Recht behaupten: Ich sah richtig gut aus!
Auch
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