Kleine freie Männer
er.
»Visnefaciem capite repletam«, sagte die Kröte. »Etwas Besseres fiel mir auf die Schnelle nicht ein. Es bedeutet so viel wie...« Sie hüstelte ein wenig. »>Möchtest du ein Gesicht, das voller Kopf ist?<«
»Na so was«, erwiderte Rob Irgendwer. »Wir wussten gar nich', dass die Juristensprache so leicht is'. He, Jungs, wir können alle Anwälte sein, wenn wir die richtigen Worte kennen! Schnappt sie euch!«
Die Stimmung der Wir-sind-die-Größten konnte von einer Sekunde zur anderen umschlagen, besonders dann, wenn ein Schlachtruf erklang. Sie hoben ihre Schwerter.
»Zwölfhundert zornige Männer!«, riefen sie.
»Nie wieder ein Gerichtssaaldrama!«
»Wir haben das Gesetz auf unserer Seite!«
»Das Gesetz kümmert sich um Halunken!«
»Nein«, sagte die Königin und winkte mit der Hand.
Anwälte und Kobolde verschwanden. Zurück blieben nur die Königin und Tiffany - im Morgengrauen standen sie sich auf der Wiese gegenüber, während der Wind um die Steine heulte.
»Was hast du mit ihnen angestellt?«, rief Tiffany.
»Oh, sie sind... irgendwo«, erwiderte die Königin herablassend. »Es sind ohnehin alles Träume. Und Träume in Träumen. Du kannst dich auf nichts verlassen, kleines Mädchen. Nichts ist wirklich. Nichts bleibt von Bestand. Alles verschwindet. Du kannst nur lernen zu träumen. Und dafür ist es zu spät. Und ich... ich hatte länger Zeit zu lernen.«
Tiffany wusste nicht, welche ihrer Gedanken derzeit dachten. Sie war müde. Sie fühlte sich so, als beobachtete sie sich selbst von oben und ein wenig von hinten. Sie sah, wie sie ihre Stiefel fest auf den grasbewachsenen Boden setzte, und dann...
... und dann...
... und dann, wie jemand, der aus den Wolken des Schlafs kam, fühlte sie die tiefe, tiefe Zeit unter sich. Sie spürte den Atem des Hügellands und hörte das ferne Donnern alter, uralter Meere, gefangen in Millionen von Schalen. Sie dachte an Oma Weh im Boden, die wieder Teil der Kreide geworden war, Teil des Lands unter der Welle. Sie glaubte zu fühlen, wie sich um sie herum gewaltige Räder aus Zeit und Sternen langsam drehten.
Sie öffnete die Augen, und dann, irgendwo in ihrem Innern, öffnete sie sie erneut.
Sie hörte das Gras wachsen und das Geräusch der Würmer im Boden. Sie fühlte tausende von kleinen Leben in der
Nähe, roch die verschiedenen Gerüche in der Brise und sah alle Schattierungen der Nacht...
Die Räder von Sternen und Jahren, von Raum und Zeit, verharrten. Tiffany wusste genau, wo sie war, wer sie war und was sie war.
Sie holte mit der Hand aus. Die Königin wollte sie festhalten, aber ebenso gut hätte sie versuchen können, ein Rad der Jahre anzuhalten. Tiffanys Hand traf sie im Gesicht und stieß sie von den Beinen.
»Ich habe nie um Oma Weh geweint, weil es gar nicht nötig war«, sagte sie. »Sie hat mich nie verlassen!«
Sie beugte sich hinab, und hunderte von Jahren beugten sich mit ihr.
»Das Geheimnis ist, nicht zu träumen«, flüsterte sie. »Das Geheimnis ist, zu erwachen. Das Erwachen ist schwerer. Ich bin erwacht, und ich bin wirklich. Ich weiß, woher ich komme und wohin ich von hier aus gehe. Du kannst mich nicht mehr täuschen. Oder mich berühren. Weder mich noch irgendetwas, das mir gehört.«
Ich werde nie wieder so sein wie jetzt, dachte Tiffany, als sie das Entsetzen im Gesicht der Königin sah. Ich werde mich nie wieder so groß wie der Himmel, so alt wie die Hügel und so stark wie das Meer fühlen. Ich habe etwas bekommen, für eine Weile, und der Preis besteht darin, es wieder zurückzugeben.
Und auch der Lohn besteht darin, es wieder zurückzugeben. Kein Mensch könnte auf diese Weise leben. Man kann einen Tag damit verbringen, eine Blume zu betrachten und ihre Schönheit zu bewundern, aber davon werden die Kühe nicht gemolken. Kein Wunder, dass wir uns durch unsere Leben träumen. Wach zu sein und alles so zu sehen, wie es wirklich ist... Niemand könnte das lange aushalten.
Sie atmete tief durch und zog die Königin hoch. Dinge geschahen, Träume heulten um sie herum, blieben jedoch ohne Wirkung auf sie. Sie war wirklich und wach, wacher als jemals zuvor. Sie musste sich konzentrieren, um gegen den Sturm aus Wahrnehmungen anzudenken, der ihr Bewusstsein erreichte.
Die Königin war leicht wie ein Baby und wechselte in Tiffanys Armen immer wieder die Gestalt, verwandelte sich in Unheuer und Mischwesen, in Geschöpfe mit Klauen und Tentakeln. Schließlich aber war sie klein und grau wie ein Affe mit
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