Untreu
Kapitel 1
»Das geht nicht«, sagte KK Marek Winter.
Er war sehr müde. Seine Hose kniff im Schritt, er wechselte unauffällig seine Sitzposition. Marek wog elf Kilo mehr als noch vor fünf Jahren. Er hatte einmal eine sportliche Figur gehabt und verfügte heute über einen Bauch, der auf unerklärliche Weise beständig wuchs.
»Das geht nicht«, sagte er ein zweites Mal, diesmal mit leisem Triumph in der Stimme. Die Frau, die vor ihm saß, war korpulent, und schon deshalb konnte er sie nicht leiden.
»Herr Kommissar...«
»Winter. Lassen Sie das Kommissar ruhig weg.«
»Herr ... äh ... Winter. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Sie sind doch hier die Vermisstenstelle. Wo soll ich sonst hingehen?«
Die Frau hatte sich mit Erika Weingarten vorgestellt und ihm gleich darauf ihren Personalausweis entgegengestreckt wie einem Vampir das Kreuz, als gäbe es die Möglichkeit, dass er an ihren Worten zweifelte. Als sei ihm nicht egal, wie sie hieß und woher sie kam. Sie trug ein rostfarbenes Kostüm, darunter blitzte der Kragen einer weißen Bluse hervor. Die Kostümjacke mit den goldenen Knöpfen spannte vor Bauch und Brüsten. Marek stellte sich unwillkürlich ihren Körper vor, eine amorphe weiche Masse, notdürftig durch BH und Stützstrümpfe in Form gehalten. Er sah sich selbst in ein paar Jahren - schwammig und fett.
Widerlich.
Mühsam riss er sich zusammen. »Also, Frau Weingarten. Sie sind mit der
mutmaßlich
Verschwundenen nicht verwandt.«
»Nein.«
»Auch nicht verschwägert?«
»Nein.«
»Sie wohnen nicht mit ihr zusammen.«
»Nein!«
»Dann haben wir hier ein Problem.« Marek faltete seine Hände unter dem Kinn und beugte sich nach vorn, als wollte er ihr ein Geheimnis verraten. Etwas in ihm genoss die Situation. Etwas in ihm hoffte, dass sie sich tatsächlich als eine dieser Idiotinnen entpuppen würde, über die man sich anschließend in der Kantine totlachen konnte. »Die Sache ist die«, fuhr er fort. »Sie...«
»Ich weiß, ich bin nicht mit ihr verwandt«, unterbrach ihn die Frau.
»Richtig«, sagte Winter, beifällig nickend, als sei sie eine zwar minderbemittelte, aber brave Schülerin, die sich immerhin bemühte, ihr Bestes zu geben. »Unter diesen Umständen können Sie die... also die
mutmaßlich
Verschwundene eben nicht als vermisst melden. Für eine Vermisstenanzeige muss man mit dem Vermissten verwandt, verschwägert oder verheiratet sein. Oder wenigstens in einem gemeinsamen Hausstand leben. Verstehen Sie, da könnte sonst jeder kommen.«
»Wer soll denn da schon kommen?«, fragte die Frau zurück, sichtbar verärgert. Sie verschränkte die Arme über ihrem voluminösen Busen.
Einen Moment lang war Marek aus dem Konzept gebracht. (Es war ja so: Wenn sie nicht verrückt war, hatte sie keinen Grund, sich in dieses Büro zu bemühen. Verrückt sah sie aber eigentlich nicht aus.) »Ach, da gibt's Sachen, das glauben Sie gar nicht.«
»Ja? Zum Beispiel?«
Marek sah sie feindselig an. »Verleumdungen eben. Einbildungen. Hirngespinste. Sie sitzen zu Hause, die Decke fällt Ihnen auf den Kopf...«
»Ich will mit Ihrem Chef sprechen. Sofort.« Die Stimme der Frau war leiser als vorhin, ihr Gesicht leicht gerötet, ihr Blick gesenkt. Erika Weingarten. Eine kleine, dicke, harmlos wirkende Frau, Anfang fünfzig, wahrscheinlich ohne Kinder, die Gespenstergeschichten ausbrütete, wenn sie hinter ihren mit Bleichmittel behandelten Gardinen hockte und versuchte, die Fenster der Nachbarhäuser mit ihren Blicken zu durchdringen.
Dennoch fühlte sich Marek mit einem Schlag ernüchtert. Man wusste eben nie. In sein Bewusstsein drang der Regen, der unermüdlich, schon den ganzen Morgen lang, an das Bürofenster hinter seinem Rücken schlug. Die Nachwirkungen eines Herbststurms der vergangenen Nacht, der auf dem Land Bäume entwurzelt, Dächer abgedeckt und Strommasten umgeworfen hatte. Der Wind hatte nachgelassen, der Regen nicht. Es war gerade hell genug, dass man ohne Kunstlicht auskam. Marek seufzte.
»Was wollen Sie jetzt machen? Mich einfach wieder heimschicken?«
Marek seufzte ein zweites Mal. Seine Hoffnung, dass ihn ein Kollege mit einem Besuch beehrte und ihn von diesem Gespräch erlöste, erfüllte sich nicht.
»Kennen Sie jemanden, der verwandt oder verschwägert ist mit der Verschwundenen?«
»Nein. Wir sind doch bloß Nachbarn!«
»Oder mit ihrem Mann? Der ist doch auch weg.«
»Nein. Wir sind Nachbarn und haben einen guten Kontakt. Ich weiß nichts über
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