Knapp am Herz vorbei
Eigenschaften besser zu nutzen.
Schreiber hatte nie vorgehabt, ein so eingefleischter Suttonologe zu werden. Er weiß nicht, was ihn zum Sammeln all dieser Informationen veranlasst hat, die Stoff für fünfzig Artikel abgäben. Am Abend zuvor verlor Schreibers Redaktionsleiter am Telefon die Geduld und bezeichnete sein Vorgehen als Wichserei. Er antwortete gelassen und in einem Ton, den Sutton gelobt hätte: Wenigstens ist es keine Clusterfuckerei.
Schreiber redet sich ein, dass er so viel wie möglich über Sutton wissen möchte, weil ihn als Reporter die Neugier antreibt und er als Amerikaner von Verbrechen fasziniert ist. Hauptsächlich aber möchte er wegen Bess alles wissen. Obwohl nur ein Teil von Suttons Geschichte, ist sie für Schreiber der zentrale Punkt. Die alten Artikel legen nahe, dass Suttons Liebe für sie wahnhaft war, aber das ist unerheblich. Jede Liebe ist wahnhaft. Wichtig ist, dass die Liebe fortbestand. Am Ende seines Lebens redete Sutton immer noch von Bess und beschrieb sie seinem Ghostwriter. Es gab andere Frauen in Suttons Vergangenheit – er war mindestens zweimal verheiratet –, doch über sie schrieb er distanziert, während seine Erinnerungen an Bess von Zartgefühl und Schwermut geprägt sind. Egal, bis zu welchem Grad sie Suttons Liebe erwidert hat oder auch nicht, Bess ist der Schlüssel zu seiner Persönlichkeit. Und vielleicht auch zu der von Schreiber. Als Autor und Mann verbrachte er viel Zeit in seinem Leben mit zwei vage verwandten Aufgaben – dem Erzählen von Geschichten und der Liebe. Sutton gab beides nie auf. Während seiner Haftzeiten und Streifzüge war er bis zum Ende ein Geschichtenerzähler und Liebender. Das findet Schreiber inspirierend. Und traurig. Vielleicht projiziert er seinen Seelenzustand auf einen toten Bankräuber, aber was soll’s? Beim Geschichtenerzählen wie in der Liebe ist ein gewisses Maß an Projektion erforderlich. Und wenn jemand eines Tages seinen Seelenzustand auf ihn projizieren will, dann sei’s drum.
Schreiber schließt Suttons Erinnerungsbuch und schaltet den Fernseher an. Die Nachrichten. Ein Bericht über den Mord an John Lennon vor zwei Wochen in New York. Ein Bericht über den zukünftigen Präsidenten Ronald Reagan, der verspricht, die Banken zu deregulieren. Ein Bericht über die steigende Arbeitslosigkeit und ein weiterer über die Annäherung der Weltbevölkerung an die Fünf-Milliarden-Grenze. Ein Menschengewühl. Schließlich ein Beitrag über Weihnachten in einem hiesigen Freizeitpark, dem ältesten in Florida, Weeki Wachee. Ein skurriles kleines Nest, bestehend aus einer Glaskuppel über einem Wasserpark mit natürlichem Quellwasser, in dem hübsche Mädchen in Nixenkostümen Unterwasserakrobatik zeigen.
Nur acht Kilometer weiter an der Straße, wo Sutton starb.
Schreiber springt vom Bett auf.
Am Morgen fährt er die Fort Dade Avenue in Richtung Süden, biegt rechts in die Cortez, links auf die U. S. 19 und folgt den Schildern, bis er Plastikflaggen entlang einer Mauer sieht. Dann die große türkisfarbene Statue einer Meerjungfrau. Sie erinnert an die Freiheitsstatue. Ihm ist noch nie aufgefallen, wie sehr die Freiheitsstatue einer Meerjungfrau gleicht.
Schreiber kauft eine Eintrittskarte und ein Programm, in dem steht, dass aus großen unterirdischen Höhlen unterhalb des Parks jeden Tag vier Millionen Liter Wasser hochblubbern. In nur fünfzehn Metern Tiefe sprudelt das Wasser so heftig, dass es einem Taucher die Gesichtsmaske abreißt. Aus diesem Grund ist die tatsächliche Tiefe der Höhlen auch unbekannt. Niemand, heißt es in dem Programm, sei jemals bis zum Grund gekommen.
Schreiber betritt ein kleines Theater. Statt einer Bühne ist da eine gewaltige Glaswand. Musik setzt ein, ein hauchdünner Vorhang hebt sich und gibt den Blick auf ein gewaltiges Flussbett mit blauviolettem Wasser frei. Plötzlich erscheinen auf der anderen Glasseite zwei Meerjungfrauen. Sie winken ihm zu, und er vergisst, dass sie nur so tun, als wären sie Meerjungfrauen. Sie sind zu schön, um nur so zu tun. Sie schwimmen rückwärts, seitwärts, kopfüber – ihr langes blondes Haar wirbelt in ihrem Kielwasser. Sie drehen sich, überschlagen sich, wackeln mit ihren Flossen und frohlocken über die fehlende Schwerkraft. Alle paar Minuten schwimmen sie an die Seite des Aquariums und saugen lange an einem Luftschlauch. Die einzige Unterbrechung in diesem lebensechten Traum.
Nach der Vorstellung eilt Schreiber hinter die Bühne
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