Dylan & Gray
E rste Begegnung
Gray
Aus dem Augenwinkel beobachte ich ein Mädchen auf der anderen Seite des Campus. Die Sonne brennt auf ihre bloßen Schultern. Sie hat sich auf den Boden gekauert und das Gesicht an eine Fotokamera gepresst. Das Gerät muss uralt sein, denn sie dreht an dem Objektiv, um die Schärfe einzustellen, und nach jedem Foto zieht sie einen Hebel, um den Film weiterzuspulen.
Der Campus zwischen uns ist nichts als eine üppige Betonlandschaft. Asphaltwege führen auf einen runden Zementplatz in der Mitte zu. Anscheinend waren die Architekten des Mesa Community College der Meinung, das billigste Baumaterial sei gerade gut genug für Studenten unserer Preisklasse. Wir haben uns kein Luxusgelände verdient. An Privatuniversitäten bekommt man korinthische Säulen, Kopfsteinpflaster und von Gärten umrahmte Hörsäle, sodass die Studenten ihren Ernest Hemingway beim Plätschern von Springbrunnen lesen und im Schatten von Weinlaubterrassen aus Robert Frosts Gedichten zitieren können. Staatliche Unis haben Betonbänke zu bieten und eine einzige Mensa, deren Spezialität fettige Donuts und Pommes sind. Da weiß man doch gleich, wo man in der Hackordnung hingehört.
Mein Blick wandert zurück zu dem merkwürdigen Mädchen. Sie lässt sich kaum übersehen, denn sie treibt sich immer irgendwo auf dem Campus herum wie ein streunender Coyote. Manchmal sitzt sie an einen Baum gelehnt und schreibt in ein Notizbuch, das nicht größer ist als ihre Handfläche. Manchmal pfeift sie vor sich hin. Sie ist immer allein und trägt jeden Tag dieselben ausgelatschten schwarzen Adidasschuhe. Ich glaube, genau das gleiche Modell hatte ich, als ich zwölf war.
Ihr anderes Lieblingskleidungsstück ist eine schlabberige Jeans, was vor allem deshalb bemerkenswert ist, weil die Sommertemperatur in Phoenix durchschnittlich vierzig Grad beträgt. Die Jeans rutscht ihr fast von den dünnen Hüften und ist so weit geschnitten, dass die Hosenbeine wie Vogelflügel flattern, wenn eine Windböe den Staub aufwirbelt. Heute trägt sie dazu ein Top in Zitronengelb, das sich eng an ihre schmale Taille schmiegt. Das Mädchen hat ähnlich viele Kurven wie eine Bohnenstange. Einmal hat sie bemerkt, dass ich sie beobachte, und gegrinst. Also habe ich weggeschaut. Ich will keinen Kontakt mit ihr. Ich bin nicht auf der Suche nach Freundschaft. Sie ist nur ein bewegliches Objekt, an das meine Augen sich heften können, während ich meine Gedanken abschalte und warte, dass die Zeit vergeht.
Ich sitze an der Wand des naturwissenschaftlichen Traktes, die ein wenig Schatten bietet, und habe meine Baseballkappe tief in die Stirn gezogen, denn der Betonboden wirft gleißend das Licht zurück. Auch beim Unterricht nehme ich die Kappe nie ab. Sie gibt mir das Gefühl, als könne ich mich unsichtbar machen, nur indem ich den Schirm nach unten ziehe. Damit kann ich die Welt ausschließen und so tun, als würde mich niemand sehen. Außerdem kann ich unbemerkt Leute beobachten. Vor allem starre ich natürlich den Mädchen nach, die mit ihren superkurzen Röcken auf Pfennigabsätzen vorüberstöckeln und ihre gebräunten Beine zeigen. Ihre hautengen Tops überlassen wenig der Fantasie. Tja, soll mir nur recht sein.
Ich hole meinen iPod aus der Tasche und scrolle durch die Alben, bis ich beim Hiphop ankomme. Musik ist jahreszeitlich, finde ich. Im Sommer ändert sich mein Geschmack, und ich höre fast nur noch schnelle Rhythmen, wild und funky. Wenn der Winter kommt, mag ich es langsamer. Akustische Gitarre. Oldies. Jetzt trommele ich mit den Fingern den Rhythmus auf den Boden und drücke mich möglichst lange davor, zum Unterricht zu gehen. Nichts ist schlimmer als im Sommerkurs abwechselnd Mathe und Kreatives Schreiben zu haben. So viel rechte und linke Gehirnhälfte kann man von keinem Menschen verlangen, besonders wenn noch nicht einmal Mittagszeit ist. Wenigstens ist die Quälerei auf eine kurze Vierwochendosis beschränkt und dauert nicht ein ganzes Unisemester.
Als mein Blick wieder bei dem Mädchen landet, sehe ich sie flach auf dem Bauch liegen, und zwar mitten auf dem Gehweg. Ich starre frustriert zu ihr hinüber. Was tut sie da? Fotografiert sie wirklich den bescheuerten Asphalt? Ratlos mustere ich ihren schlaksigen Körper. Sie ist nicht dünn wie die ausgehungerten Models in Zeitschriften, die mich immer an Strichmännchen mit Haarmähne und Schminke erinnern. Eher wirkt sie hyperaktiv-schlank, als könne sie nie lange genug still sitzen, um
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