Der Moderne Knigge
I.
Leitfaden durch den Winter
Vierte Auflage
Berlin
A. Hofmann & Comp.
1906
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Längst gefühlten Bedürfnissen abzuhelfen, ist seit undenklichen Zeiten des Schriftstellers angenehmer Beruf gewesen. Ob ihm dies jemals gelungen ist, das kann ich nicht sagen. Der Leser, der überhaupt immer auf der Linken sitzt, bestreitet es, und die Hochschätzung, mit der ich dem Leser, als unserem unentbehrlichsten und nützlichsten Menschen, gegenüberstehe, verbietet mir, ihm entgegenzutreten. Auch ist ein Körnchen Wahrheit in dem, was er sagt. Es giebt viele Schriftsteller, welche mit großem Biereifer nach Bedürfnissen suchen, von denen sie sich nur einbilden, daß es längst gefühlte sind, denn es stellt sich nur zu bald heraus, daß kein Mensch das betreffende Bedürfnis längst gefühlt hat; der Schriftsteller am allerwenigsten längst, meist gar nicht. Er hat nur längst gefühlt, daß er einen Stoff zu einem Feuilleton braucht, und so hat er denn, wenn er den Stoff gefunden hat, ein gar nicht vorhandenes Bedürfnis zu einem längst gefühlten erhoben, um den Leser, der gewöhnlich lesensmüde zu sein pflegt, wachzuhalten, indem er ihm vorgaukelt, daß er etwas Nützliches schreiben wolle. Ich gebe zu, daß dies nicht hübsch von ihm ist. Dies ist der mildeste Ausdruck. Denn eigentlich ist es nicht bloß nicht hübsch. Wenn vor einem Hause, das durchaus nicht in Flammen steht, plötzlich die Feuerwehr erscheint, zu spritzen anfängt und ein Sprungtuch ausbreitet, während die Bewohner des besagten Hauses neugierig lächelnd aus dem Fenster gucken, so kann man doch nicht sagen, daß das Erscheinen der Feuerwehr nicht hübsch sei. Indem die Feuerwehr erscheint und in Thätigkeit tritt, um einem längst gefühlten Bedürfnis abzuhelfen, das durchaus nicht vorhanden ist, macht sie sich lächerlich. Man darf eigentlich von einer städtischen Wohlfahrtseinrichtung, wie es die Feuerwehr ist, nicht sagen, sie mache sich lächerlich, aber ich sage das dennoch, denn ich habe ja keine bestimmte Feuerwehr im Auge, und ich nehme auch gar nicht an, daß es eine Feuerwehr giebt, welche ein Haus, in welchem keine Feuersbrunst wütet, unter Wasser setzt und vor demselben ein Sprungtuch ausbreitet, in das kein Mensch hineinspringen will.
So viel über das Abhelfen längst gefühlter Bedürfnisse, aus welchem viele Schriftsteller ein Geschäft machen.
Man wird mir vielleicht zugeben, daß es mir nicht an Aufrichtigkeit fehlt, indem ich das Obige niederschrieb, während ich die Absicht hatte, einem Bedürfnis und sogar einem längstgefühlten abzuhelfen und in dieser Absicht auch jetzt noch verharre. Man lasse mich eine Weile (keine lange) weiterschreiben und wird sagen, daß ich wenigstens nicht aufdringlich erscheine, daß vielmehr das, was ich vorhabe, wie das Bestreben, abzuhelfen, aussieht.
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Der Winter kommt. Das ist ja nichts Außergewöhnliches. Ich will auch nicht etwa den Winter schildern. Ich könnte auch nichts über ihn sagen, was nicht schon gesagt wäre, und selbst, wenn ich ein impressionistischer Maler wäre und zur Darstellung des Schnees die blaue oder rote Farbe verwendete und die Nasen der im Schnee spazierengehenden Menschen grün malte, so wäre dies zwar dumm, aber heute doch nicht mehr auffallend. Der Winter kommt, und mit ihm erwacht das gesellschaftliche Leben.
Dieses sogenannte Leben äußert sich durch ein mehr oder weniger arges Gewoge in geheizten Räumen, den Treibhäusern der Geselligkeit, in denen die Abfütterungen, der Ball, der
Jour fixe
und ähnliche Veranstaltungen stattfinden. Unter solchen leidet nur das Haus und das dieses leitende Ehepaar, sowie ein beträchtlicher Teil der Eingeladenen, unter denen nur wenige das schriftstellerische Talent haben, glaubwürdige Absagen zu verfassen. Außer jenen häuslichen Lebensäußerungen des Saisonlebens giebt es noch die öffentlichen, zu welchen man sich durch Einkauf eines Billets den Eintritt verschafft, auch wenn man eigentlich nicht in die Gesellschaft passen würde. Dies sind: der Bazar, das Vereinsfest, die Jubelfeier und der Maskenball. Jedes dieser Feste, sie mögen nun zwischen den vier Wänden des Familienhauses und außerhalb desselben zu erdulden sein, hat seine besonderen Formen, denen gerecht zu werden eine ebenso schwere Aufgabe ist, als es schwer ist, sich diesen Formen zu entziehen. Gegen diese Formen wird oft gesündigt, teils weil sie lästig, teils nicht allgemein bekannt sind. Ich halte es natürlich
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