Kölner Kreuzigung
du etwas mehr über dieses Bild herauszufinden, Marius‹, hatte Brock gesagt, als sie vor dem Wallraf standen und gemeinsam mit einer Gruppe italienischer Schüler die Ausgrabungen vor dem Museum betrachteten. Brock hatte sich durchaus interessiert gezeigt, als Marius ihm erklärt hatte, aus welchem Jahrhundert die freigelegten Fundamente in der Ausgrabungsstelle ungefähr stammten. Wenn man sich Köln heute mit seinen schmucklosen Bauten aus der Nachkriegszeit anschaute, konnte man schon einmal vergessen, wie alt diese Stadt war. Wahrscheinlich waren es genau diese Erklärungen, die Brock dazu gebracht hatten, ihn hierher zu schicken und sich selber den spannenderen Ansatzpunkt zu wählen. Brock wollte sich um das Foto und seine Herkunft kümmern, Marius sollte ein wenig Hintergrundinformationen liefern und vielleicht den ein oder anderen Ansatz beisteuern. Kurz: Er sollte das tun, was er hinter sich gelassen hatte, um Privatdetektiv zu werden.
Die weiß getünchte Eisentür schepperte nach wie vor, wenn sie hinter einem zufiel. Es war fast wie nach Hause zu kommen. Ein Zuhause, das einem nichts mehr bedeutete. In dem hellen Flur saß immer noch die gleiche Frau hinter dem Tresen der Aufsicht und musterte jeden Neuankömmling kritisch. Ihre senkrechte Stirnfalte schien mit den Jahren tiefer geworden zu sein. Marius nickte ihr nur kurz zu und packte seine Jacke und seine Tasche in eines der Schließfächer unter der Treppe. Dann betrat er, ohne dass ihn die Frau weiter beachtete, die Bibliotheksräume, deren grelles Neonlicht einen deutlichen Kontrast zu dem tristen, halbdunklen Grau draußen bildete. Dutzende raumhohe Bücherregale gruppierten sich zu kleinen Lesesälen. Marius war überrascht, wie gut er sich nach all den Jahren hier noch zurechtfand. Er sammelte ein paar Bände über Stephan Lochner zusammen und setzte sich an einen freien Platz. Schon auf dem Weg hierher hatte er versucht, sich an das zu erinnern, was er über Lochner gelernt hatte. Viel war über den Maler nicht bekannt. Marius hatte einmal gelesen, dass es über William Shakespeare, der knapp 150 Jahre nach Lochner gelebt hatte, nur sechs gesicherte Angaben gab, weswegen manche die Existenz des Dramatikers bestritten. Über Lochner gab es kaum mehr gesicherte Erkenntnisse. Geboren wurde der Maler irgendwann zwischen 1400 und 1410 am Bodensee, vermutlich in Meersburg, wo seine Eltern lebten. Mit seiner Frau hatte er zunächst zwei Jahre in Köln in der Großen Budengasse gelebt hatte, danach zogen sie in eine Doppelhaushälfte am Quartermarkt und von da aus in ein Haus in der Straße In der Höhle. Das Haus, erstmals erwähnt im 14. Jahrhundert, stand bis in die 1850er-Jahre, heute aber war die alte Gasse vollständig überbaut. 1447 wurde Lochner in das Bürgerbuch der Stadt Köln aufgenommen und von seiner Zunft in den Rat gewählt. Zu dieser Zeit war er demnach ein angesehener Bürger gewesen. Um in das Bürgerbuch überhaupt aufgenommen zu werden, musste er mindestens zehn Jahre in Köln gelebt haben, sodass er sich um 1437 hier niedergelassen haben könnte. 1451, während seiner zweiten Amtsperiode als Ratsherr starb Lochner. Über die Todesursache war nichts Genaueres bekannt. Vermutlich starb der Maler an der Pest, die in diesem Jahr in Köln wütete und die Hälfte der 40.000 Einwohner der Stadt dahinraffte.
Für Kunsthistoriker waren diese Daten von nicht geringer Bedeutung. Da die Künstler der Zeit ihre Werke nicht signierten, wie Malven Marius und Brock bereits erklärt hatte, ließ sich über derartige Daten ein zeitlicher Rahmen bilden, in dem ein Maler gearbeitet hatte. Das erleichterte die Zuschreibung, die allein über örtliche Herkunft, Alter des Bildes und stilistische Besonderheiten erfolgte, sofern sie sich feststellen ließen. Hinzu kamen Urkundenvermerke über Auftragsarbeiten. So wusste man zum Beispiel, dass Lochner 1442 ein Trompetenbanner, den Schmuck, Schilder und Stadtwappen für den Besuch König Friedrichs II. in Köln gemalt hatte, der die Stadt auf der Durchreise zu seiner Krönung in Aachen besuchte. Auch an der Herstellung des Baldachins, unter dem der König später einherging, war Lochner beteiligt gewesen. Sein Hauptwerk allerdings war, neben verschiedenen Altären, unter ihnen der Dreikönigsaltar in Köln, ein Gemälde im Besitz des Wallraf-Richartz-Museums, die ›Madonna im Rosenhang‹. Im Vergleich zu diesem Bild mit seinem fein ausgearbeiteten Hintergrund und seiner komplexen mittelalterlichen
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